Dienstag, 30. August 2011

Kampf gegen Internet-Abzocke

Blogbeitrag von Andreas Sterntal, Kommentar auf dem Blog von Thomas Hoeren, blog.beck.de:


nur um die Zahlen, die mit Abofallen erwirtschaftet werden zu unterfüttern (Quellen: übereinstimmende Angaben von Aussteigern):


1. Rechnungslauf: Eingangsquote 10 - 15 %


2. Mahnungen: weitere Steigerung um 5 - 10 %


3. Versand per Post: weitere Steigerung um 5 - 10 %


4. Inkasso durch Dienstleister: Totale Eingangsquote bis 50 %


5. Inkasso durch Anwalt: Totale Eingangsquote bis 70 %


Damit so eine Abofalle richtig ins Laufen kommt, wurden diese Projekte teilweise an "Investoren" verkauft, die a) die Infrastruktur für die laufende Bearbeitung und b) die Anlaufkosten für die Google-Werbung bezahlt haben. Da wurden dann schon mal 50 bis 100.000 EURO pro Monat bezahlt. Bei Registrierungskosten von ca. 1 - 2 EURO/Stück überlasse ich es Ihnen bzw. Ihrem Taschenrechner sich die Profitabilität auszurechnen.


 


Welche Blogger oder Portale bringen Infos zum Thema Internet-Abofallen oder Internet-Betrüger?


http://www.abzocknews.de/ (gut)


http://blog.beck.de/blogs/thomashoeren


http://blog.beck.de/2011/06/08/runder-tisch-gegen-internetabzocke


http://www.verbraucherschutz.tv/


http://klawtext.blogspot.com/ (RA Sebastian Dosch)


http://www.kanzleikompa.de/ (RA MArkus Kompa)


http://www.kanzlei-thomas-meier.de/


http://www.abo-falle.de/news/ (RA Jens Ferner)


http://antiabzockenet.blogspot.com/ (mit internationaler Ausrichtung)


http://www.echte-abzocke.de/


Schwarze Liste des Verbraucherschutzverbandes


 


Außerdem sollte man wissen, dass nach § 10 RDG “Inkassodienstleistungen” grundsätzlich einer gesonderten Zulassung bedürfen. Ob ein Unternehmen eine solche Zulassung auch wirklich hat, kann jeder  auf der Webseite http://www.rechtsdienstleistungsregister.de/ nachprüfen. Dort sind auch Untersagungen einzusehen.


 


Hilfreiche und weiterführende Linkverweise:


Sonntag, 28. August 2011

Privater ebay-Handel: jetzt auch noch USt-Pflicht?



Sind ebay-Verkäufe C2C eigentlich zu versteuern? Angenommen, das Ganze wird ohne Gewinnerzielungsabsicht gemacht, oder die Sachen sind schon längere Zeit im Privatbesitz - da denkt der Laie doch nicht an eine Steuerpflicht. Schon gar nicht an eine USt-Pflicht.

 Eine andere Antwort gibt das Finanzgericht Baden-Württemberg in seinem Urteil Urteil vom 22. September 2010 – 1 K 3016/08 . Es hat entschieden, dass eine private Auktion auf der Internet-Plattform “e-bay” unter bestimmten Voraussetzungen den Verkäufer zur Zahlung von Umsatzsteuer verpflichtet.



Aus der Pressemitteilung des Gerichts: "Die verheirateten Kläger versteigerten über einen Zeitraum von etwa dreieinhalb Jahren auf “e-bay” mehr als 1.200 Gebrauchsgegenstände (im Wesentlichen Spielzeugpuppen, Füllfederhalter, Porzellan und ähnliche Dinge) und erzielten hieraus zwischen 20.000 € und 30.000 € jährlich. Damit lagen sie erheblich über dem Grenzbetrag, bis zu dem bei Anwendung der sog. Kleinunternehmerregelung (§ 19 Umsatzsteuergesetz) im Regelfall keine Umsatzsteuer anfällt (jetzt: 17.500 Euro im Kalenderjahr). Die Kläger waren davon ausgegangen, dass die als “privat” deklarierten Verkäufe umsatzsteuerfrei seien, da sie lediglich Gegenstände veräußert hätten, die sie zuvor aus einer Sammlerleidenschaft heraus – und ohne die Absicht des späteren Wiederverkaufs – über einen langen Zeitraum hinweg erworben hätten. Das Fi-nanzamt hatte die Auktionen demgegenüber als umsatzsteuerpflichtig behandelt und aus dem Verkaufserlös den darin seiner Auffassung nach enthaltenen Umsatzsteueranteil herausgerechnet.

Der 1. Senat des Finanzgerichts hat die Besteuerung der Verkäufe als zutreffend angesehen und die Klage abgewiesen. Die Kläger sind als Unternehmer im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 Umsatzsteuergesetz anzusehen. Dies setzt voraus, dass es sich um eine nachhaltige Betätigung handelt. Hiervon ist nach Ansicht des Gerichts bei einer derart intensiven und auf Langfristigkeit angelegten Verkaufstätigkeit auszugehen. Diese sei mit erheblicher Intensität betrieben worden und habe einen nicht unerheblichen Organisationsaufwand erfordert. Darauf, dass das Auftreten nicht dem eines klassischen Händlers entsprochen habe, weil die Ware nicht schlicht “durchgehandelt” wurde, komme es nicht entscheidend an. Die Revision ist zugelassen worden und unter dem Az. V R 2/11 beim Bundesfinanzhof (BFH) anhängig.”

Anmerkungen:


Diese Fallgruppe enthält alle möglichen Aspekte, die unser Steuerrecht derzeit so skurril und unberechenbar macht. Ich unterrichte nun schon seit 20 Jahren, aber in den letzten Jahren ist das so extrem geworden, dass ich die Zusammenhänge kaum mehr vermitteln kann, ohne einen kleinen Lehrgang draus zu machen. Ich gehe deshalb nur auf folgendes Detail der USt-Pflicht ein:

Das, was das  Finanzgericht anspricht,  ist das Problem der Unternehmereigenschaft nach UStG. Danach ist jemand auch dann Unternehmer i.S.d. UStG, wenn er NICHT mit Gewinnerzielungsabsicht handelt, sondern einfach nur systematisch agiert, also  mit so genannter Einnahmeerzielungsabsicht.

Ich z.B. habe über einige Jahre hinweg Ausstellungen gemacht und Bilder verkauft. Das musste (und konnte) ich nicht als  Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit ansetzen, weil ich das Ganze ohne Gewinnerzielungsabsicht mache; ich hätte im Endeffekt für die meisten Jahre geringe Verluste ansetzen müssen/können. Auch wenn ursprünglich Gewinnerzielungsabsicht da war - ich habe die Tätigkeit aufrechterhalten, nachdem ich gemerkt hatte, dass meine Lehrtätigkeit ein gewinnbringendes Malen nicht zulässt. Auch hier spricht die Rechtsprechung (zu Recht) von so genannter "Liebhaberei". Den Namen darf man nicht so wörtlich nehmen, das ist nur die Umschreibung für diese Fälle der fehlenden Gewinnerzielungsabsicht.

Aber wegen des systematischen Vorgehens habe ich "Einnahmeerzielungsabsicht". Ich sei also USt-pflichtig, stellte sich überraschend bei einem Abstimmungsgespräch mit der Finanzbeamtin heraus. Denn für die USt reicht eben die Einnahmeerzielungsabsicht, so zumindest die bis jetzt herrschende Meinung und Rechtsprechung. Etwas, das man bald dringendst gesetzgeberisch angehen müsste.

Das nächste Skurrile ist, dass ich nicht unter die Kleinunternehmerregelung falle, obwohl ich weit unter der Umsatzgrenze liegen würde. Denn im USt-Recht gilt der "Einheitsunternehmer". Es werden die einzelnen Zweige nicht getrennt, sondern alle Umsätze aus Anwaltstätigkeit, aus Lehrtätigkeit (soweit ustpflichtig), aus künstlerischer Tätigkeit und aus gewerblicher Tätigkeit (gelegentliche IT-Geschäfte) werden zusammen genommen und dann erst geprüft, ob die Kleinunternehmergrenze überschritten ist. Damit entsteht natürlich auch eine Wettbewerbsverzerrung zu einem Angestellten, der nebenher malt.

Wenn der Verkäufer aus dem Fall des Finanzgerichts auf irgend einem anderen Gebiet selbständig ist, liegt er  wahrscheinlich über der US-Grenze (17.500 Euro), im Gegensatz zu einem Angestellten, der nebenher handelt. Versuchen Sie mal, hier jemand rechtssicher zu beraten - da stöhnen auch die Steuerberaterkollegen.

Mir persönlich ist das mit der USt-Pflicht egal, soweit es meine Malerei betrifft. Allerdings sind diese seltsamen Regelungen (und/oder Auslegungen) eine Zumutung für den Bürger und eine Bremse für die Wirtschaft.

Dass nun auch noch bei privaten ebay-Verkäufern an die Umsatzbesteuerung gedacht wird, ist für mich der Hammer. Die Möglichkeit einer Differenzbesteuerung, die ich in der PDF-Datei von steuerberaten.de gefunden habe, habe ich allerdings noch nicht durchgeprüft. Auch so eine skurrile Erfindung aus den letzten Jahrzehnten, die nur Probleme aufwirft.

Und, wenn Sie noch nicht verwirrt genug sind: was das einkommensteuerliche betrifft, wird es erst richtig bunt.

Da gibt es die Möglichkeit


  1. der Einstufung als Gewerbe (systematisches Verkaufen + Gewinnerzielungsabsicht) und somit Einkünfte aus gewerblicher Tätigkeit (§ 16 EStG),

  2.  falls nicht gewerblich, weil nur gelegentliche Tätigkeit,  dann evtl. Einstufung als Spekulationsgeschäft und damit Einkünfte aus sonstiger Tätigkeit (§ 22 Nr. 2 iVm § 23 EStG), soweit die einzelnen Gegenstände innerhalb eines Jahres gekauft und verkauft wurden und dabei ein Gewinn entstanden ist. Hier gibt es Freigrenzen zu beachten (600 Euro). Diese Besteuerung wird oft fälschlicherweise als "Spekulationssteuer" bezeichnet.

Wann schafft man diese Spekulationsbesteuerung beweglicher Gegenstände endlich ab. . Eigentlich war da mal der Hauptgedanke an den Aktienhandel bzw. Wertpapierhandel. Das fiel stets mit unter diese Regelung. Wer privat binnen einer bestimmten Frist Wertpapiere kaufte und verkaufte und nach Abzug der Kosten Gewinn machte, musste den Gewinn bei der Einkommensteuer mit angeben. Der Gewinn wird nicht gesondert besteuert, sondern wird Teil des gesamten "zu versteuernden Einkommens"; je nach dem, wie weit der betreffende in der Progression ist, musste er hierauf bis zu  45 % Steuern zahlen. Diese Spekulationsfrist betrug sehr lange Zeit 6 Monate, vor einigen Jahren aber wurde sie auf 1 Jahr angehoben. Offenbar brauchte der Staat wieder mal Geld (wahrscheinlich um Wahljahr-Steuersenkungen zu finanzieren) und da schraubt man an vielen Rädchen, hier und dort, blickt ja eh keiner mehr durch.

Aber mit der Abgeltungssteuer-Reform wurde der private Handel mit Aktien - unbemerkt von den meisten - in die Einkunftsart "Einkünfte aus Kapitalvermögen" verschoben, so dass dort jetzt  Aktiengewinne (bei An und Verkauf binnen eines Jahres natürlich) in denselben Topf wie Zinsen und Dividenden geworfen wird. Dort geht es dann kompliziert weiter - je nachdem kommt es zu einer Besteuerung über die Abgeltungssteuer (25 %) oder es fällt wieder in den gesamten Topf der zu versteuernden Einkommen". Aber das will ich hier nicht weiter erörtern. Jedenfalls: dass der Staat am privaten Aktienhandel mit verdienen will, ist gerade noch so vertretbar.

Aber was bleibt im § 23 EStG übrig: der An- und Verkauf von beweglichen Sachen binnen Jahresfrist und der An- und Verkauf von Grundstücken binnen 10-Jahres-Frist. Über die Grundstücke ließe sich streiten, aber das mit den beweglichen Sachen hätte man doch wirklich abschaffen können.

Nein, man hat ihn nur abgemildert. Man hat  eine Einschränkung hinzugefügt, die in Satz 2 steckt, also: § 23 (1) Nr. 2 Satz 2 :

"Ausgenommen sind Veräußerungen von Gegenständen des täglichen Gebrauchs."

Damit tauchen wieder tausend Fragen auf, und damit Rechtsunsicherheit am laufenden Band. Steuerfachleute haben damals den Kopf geschüttelt, aber da gleichzeitig soviele anderen Änderungen (Kapitalertragsteuer, Abgeltungssteuer, Bilanzmodernisierung, GWG-Regelung usw. usw.) kamen, bei denen nicht nur ein paar Details, sondern ganze Systeme umgeworfen wurden, waren alle damit beschäftigt, die vielen anderen Neuregelungen zu begreifen. Anders ausgedrückt: die sind sowieso den ganzen Tag nicht aus dem Kopfschütteln heraus gekommen. Die schütteln die Köpfe sogar im Schlaf.

Ach ja, was die immobilien betrifft: Die "Spekulationsbesteuerung" des § 23 griff früher mal nur bei An- und Verkauf binnen 2 Jahren (nochmals: 6 Monate bei beweglichen Sachen und Wertpapieren und 2 Jahre bei Immobilien). Das galt sehr lange, bis man die Frist auf 10 Jahre anhob. Ob das noch sachgerecht ist?

Warum greift niemand den § 23 generell an - er ist für mich nicht mehr nachvollziehbar, jetzt, da der Aktienhandel in eine andere Einkunftsart verschoben wurde. Aber wie soll das gehen, wenn kaum mehr jemand durchblickt und man einem Journalisten oder Redakteur wegen der Kompliziertheit nicht klar machen kann, was hier schief läuft. Und der Redakteur das wiederum den Leuten nicht klar machen kann, weshalb er auch nichts schreibt. Und die Fachleute haben keine Zeit zu protestieren, weil sie immer noch an den Änderungen der letzten Jahre kauen, und kaum zum Alltagsgeschäft kommen. Das ist keine Stammtischpolemik, sondern  wirklich so - ich kenne genug Steuerberater, Dozenten und Finanzbeamte. Sie sagen es nur nicht laut. Oder nur unter Kollegen. "Es macht langsam keinen Spaß mehr" stöhnte eine Dozentenkollegin, und meinte damit das Stakkato an Gesetzesänderungen und immer komplizierteren Regelungen, die wir den Schülern oder Studenten beibringen müssen.

Jedenfalls - wegen der vielen Parameter kann man heute die Frage, ob ebay-Geschäfte steuerlich relevant sind, nur mit hundert Wenn-Dann-Varianten beantworten. Und es bleiben Abgrenzungsfragen wie die mit den Gegenständen des täglichen Lebens. Die sind wirklich nicht geklärt, da müsste man erst jahrelange Rechtsprechung abwarten, bis sich ein Bild ergibt.



Zur Besteuerung beim ebay-Handel, auf die Schnelle, ein paar Links:

OFD Koblenz:

http://www.fin-rlp.de/start/presse/pressemeldungen/detail/artikel/1363/350/index.html?tx_ttnews%5BpS%5D=1267403124&tx_ttnews%5Bpointer%5D=37&cHash=8bb1c033c5&tx_queofontresizer_pi1%5Bfontresize%5D=-1

OFD Niedersachsen:

http://www.ofd.niedersachsen.de/live/live.php?navigation_id=17534&article_id=68035&_psmand=110#faq_130

Donnerstag, 25. August 2011

Das Verzögerungsgeld - die neue steuerliche Nebenleistung

Anlässlich einer Pressemitteilung des BFH vom 20.07.2011 möchte ich alle Steuerfachangestellte bzw. Auszubildenden auf das Verzögerungsgeld hinweisen, das mittlerweile zum Katalog der steuerlichen Nebenleistungen gehört - und damit zum Prüfungswissen im Fach  "Abgabenordnung".


Die genannte Pressemitteilung betrifft eine im Juni ergangene Entscheidung über Festsetzung von Verzögerungsgeld im Rahmen einer Außenprüfung, BFH, Pressemitteilung Nr. 53/11 vom 20.07.2011 zum Beschluss IV B 120/10 vom 16.06.2011.


Mit Beschluss vom 16. Juni 2011 IV B 120/10 hatte nämlich der Bundesfinanzhof (BFH)  entschieden, dass ein Verzögerungsgeld verhängt werden kann, wenn ein Steuerpflichtiger seinen Mitwirkungspflichten im Rahmen einer Außenprüfung nicht fristgerecht nachkommt. Allerdings ist die mehrfache Festsetzung eines Verzögerungsgelds wegen fortdauernder Nichtvorlage derselben Unterlagen nicht rechtens - anders als beim Zwangsgeld! Insoweit hatte das Gericht das Finanzamt korrigiert.

Mit dem Jahressteuergesetz 2009 hat der Gesetzgeber - bisher weitgehend unbemerkt - das sog. Verzögerungsgeld eingeführt,  § 146 Abs. 2b AO. Es beträgt mindestens 2.500 Euro und höchstens 250.000 Euro und kann unter anderem festgesetzt werden, wenn der Steuerpflichtige bei einer Außenprüfung nicht innerhalb einer angemessenen Frist Auskünfte erteilt oder Unterlagen vorlegt - was nicht so einfach erkennbar ist. Denn im § 146 Abs. 2b AO geht es primär um Fälle der Auslandsverlagerung der Buchführung.


Ursprünglich stand die Einführung des Verzögerungsgelds im Zusammenhang mit der seit 2009 eingeräumten Befugnis, die Buchführung eines Unternehmens in das Ausland zu verlagern. Um einer evtl. erforderlichen Rückverlagerung der Buchführung in das Inland Nachdruck zu verleihen, wurde das Verzögerungsgeld eingeführt. Der Gesetzgeber hat es aber nicht bei dieser Regelung belassen, sondern das Verzögerungsgeld auch auf die verzögerte Mitwirkung im Rahmen einer Außenprüfung erstreckt. Der Finanzverwaltung steht damit neben der auch weiter bestehenden Möglichkeit zur Verhängung eines Zwangsgelds ein durchaus scharfes Sanktionsinstrument zur Verfügung, vergleicht man etwa die Höhe des Verzögerungsgelds von mindestens 2.500 Euro bis zu 250.000 Euro mit der Höhe des Zwangsgeldes, das höchstens 25.000 Euro betragen darf. Zudem ist das Verzögerungsgeld anders als das Zwangsgeld auch dann zu zahlen, wenn der Steuerpflichtige seiner Verpflichtung nach dessen Festsetzung doch noch nachkommt.

Im Streitfall hatte der Steuerpflichtige von dem Finanzamt (FA) im Rahmen einer Außenprüfung angeforderte Unterlagen nicht fristgerecht eingereicht. Weil bestimmte Unterlagen auch nach der Festsetzung eines Verzögerungsgelds nicht vorgelegt wurden, forderte das FA erneut zur Vorlage auf und setzte wegen derselben Unterlagen ein weiteres Verzögerungsgeld fest.


Der Beschluss in vollem Wortlaut ist hier:

Beschluss des IV.  Senats vom 16.6.2011 - IV B 120/10 -


Er ist sehr erschlagend, vor allem, weil auch viele andere Aspekte durchzuprüfen waren, die hier nicht weiter interessant sind. Ich habe die zwei relevanten Abschnitte aus den Entscheidungsgründen herauskopiert. Das sind zum einen die Randnummern 37 bis 40 (für die erstmalige Festsetzung des Verzögerungsgeldes auch in Außenprüfungsverfahren) und Randnummern 49 ff bezüglich der wiederholten Festsetzung bei fortdauernder Untätigkeit.


1. Ausschnitt (Hervorhebungen durch Fettschrift stammen von mir):




























37








Das FA hat die Festsetzung des Verzögerungsgelds in Höhe von 2.500 EUR wegen Nichtvorlage der Buchführungsunterlagen zu Recht auf § 146 Abs. 2b AO gestützt.







 








38








a) Nach der Regelung des § 146 Abs. 2b AO kann ein Verzögerungsgeld von 2.500 EUR bis 250.000 EUR festgesetzt werden, wenn ein Steuerpflichtiger der Aufforderung zur Rückverlagerung seiner elektronischen Buchführung oder seinen Pflichten nach § 146 Abs. 2a Satz 4 AO, zur Einräumung des Datenzugriffs nach § 147 Abs. 6 AO, zur Erteilung von Auskünften oder zur Vorlage angeforderter Unterlagen i.S. des § 200 Abs. 1 AO im Rahmen einer Außenprüfung innerhalb einer ihm bestimmten angemessenen Frist nach Bekanntgabe durch die zuständige Finanzbehörde nicht nachkommt oder er seine elektronische Buchführung ohne Bewilligung der zuständigen Finanzbehörde ins Ausland verlagert hat.







 








39








Das Verzögerungsgeld wurde durch Art. 10 Nr. 8 des Jahressteuergesetzes 2009 vom 19. Dezember 2008 (BGBl I 2008, 2794) --JStG 2009-- mit Wirkung vom 25. Dezember 2008 (Art. 39 Abs. 1, Abs. 8 JStG 2009) als neue steuerliche Nebenleistung (§ 3 Abs. 4 AO) eingeführt. Die Einführung des Verzögerungsgelds stand im engen Kontext mit der ebenfalls durch das JStG 2009 eingeführten Regelung in § 146 Abs. 2a AO. Danach kann das Finanzamt dem Steuerpflichtigen unter bestimmten Voraussetzungen bewilligen, seine Buchführung in das Ausland zu verlagern. Für den Fall, dass die Voraussetzungen nicht oder nicht mehr vorliegen, kann die Bewilligung widerrufen und die unverzügliche Rückverlagerung verlangt werden (§ 146 Abs. 2a Satz 3 AO). Um den Steuerpflichtigen in diesem Fall zu einer zeitnahen Rückverlagerung der Buchführung anzuhalten, ist die Möglichkeit der Festsetzung eines Verzögerungsgelds normiert worden.







 








40









Über diesen direkten Normzusammenhang hinaus kann nach dem zuvor dargelegten Wortlaut ein Verzögerungsgeld aber auch dann verhängt werden, wenn ein Steuerpflichtiger einer Aufforderung des Finanzamts zur Erteilung von Auskünften oder zur Vorlage angeforderter Unterlagen i.S. von § 200 Abs. 1 AO im Rahmen einer Außenprüfung innerhalb einer angemessenen Frist nicht nachkommt (Urteil des Schleswig-Holsteinischen FG vom 1. Februar 2011  3 K 64/10, Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 846; ebenso Geißler, Neue Wirtschaftsbriefe 2009, 4076; Klein/Rätke, AO, 10. Aufl., § 146 Rz 5b; Gebbers, Die steuerliche Betriebsprüfung 2009, 130).


Es erscheint zwar systematisch missglückt, die Regelung des Verzögerungsgelds wegen der Verletzung von Mitwirkungspflichten bei einer Außenprüfung mit einem Verzögerungsgeld im Zusammenhang mit anderen Verpflichtungen zu verbinden. Sie hätte, worauf Drüen in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 146 AO Rz 51 zutreffend hinweist, besser in § 200 AO verortet werden sollen.


Angesichts des eindeutigen Wortlauts kann aber allein aus der unzureichenden systematischen Verortung nicht darauf geschlossen werden, dass ein Verzögerungsgeld nur im Zusammenhang mit einer ohne Bewilligung der Finanzbehörde erfolgten Verlagerung der Buchführung ins Ausland oder unterbliebener Rückverlagerung der Buchführung aus dem Ausland festgesetzt werden darf (so aber Drüen in Tipke/Kruse, a.a.O., § 146 AO Rz 51).


Dieses Verständnis der Norm wird durch die Gesetzesbegründung gestützt. Danach soll das Verzögerungsgeld im Falle der Verletzung von Mitwirkungspflichten gleichermaßen gelten, um eine Ungleichbehandlung von Steuerpflichtigen, die ihre Bücher und sonstigen Aufzeichnungen im Ausland führen, gegenüber solchen Steuerpflichtigen, die dies im Inland tun, zu vermeiden (vgl. BTDrucks 16/10189, S. 81). Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, ob eine Erstreckung des Verzögerungsgelds auch auf Fälle sonstiger Mitwirkungsverletzungen aus Gründen der Gleichbehandlung überhaupt erforderlich gewesen wäre (ablehnend Drüen in Tipke/Kruse, a.a.O., § 146 AO Rz 51).




2. Ausschnitt:
























49








3. Bei summarischer Prüfung bestehen indes ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 29. Juni 2010 in der Fassung vom 1. Oktober 2010.







 








50








a) Es ist ernstlich zweifelhaft, ob die mehrfache Festsetzung eines Verzögerungsgelds wegen fortdauernder Nichtvorlage derselben angeforderten Unterlagen i.S. des § 200 Abs. 1 AO von § 146 Abs. 2b AO gedeckt ist (für zulässig erachtet von tom Suden, § 146 Abs. 2a und 2b AO: Das trojanische Pferd im Steuerrecht, Die Steuerberatung 2009, 207; Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 22. April 2010, Deutsches Steuerrecht 2011, 676).







 








51









Die Zulässigkeit einer mehrfachen Festsetzung wegen derselben Verpflichtung lässt sich weder aus dem Wortlaut noch aus dem Sinn und Zweck der Regelung des § 146 Abs. 2b AO entnehmen. Das Verzögerungsgeld soll nach der Gesetzesbegründung den Steuerpflichtigen zur zeitnahen Mitwirkung anhalten. Es steht damit in einem Konkurrenzverhältnis zu dem Zwangsgeld gemäß § 328 Abs. 1, § 329 AO.


Für das Zwangsgeld enthält § 332 Abs. 3 AO die ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung, es erneut wegen derselben Verpflichtung anzudrohen, wenn das zunächst angedrohte Zwangsgeld erfolglos geblieben ist.


Das Schweigen des Gesetzgebers zu der Möglichkeit einer erneuten Festsetzung eines Verzögerungsgelds deutet daher darauf hin, dass ein Verzögerungsgeld wegen derselben Verpflichtung nur einmal festgesetzt werden kann.


Eine analoge Anwendung des § 332 Abs. 3 AO kommt nach Auffassung des Senats nicht in Betracht, weil nicht zu erkennen ist, dass das Fehlen einer Regelung zur wiederholten Festsetzung eines Verzögerungsgelds auf einem Versehen des Gesetzgebers beruht. Es fehlt damit an der für eine analoge Gesetzesanwendung erforderlichen planwidrigen Regelungslücke.



Sonntag, 21. August 2011

Neue Rechtsprechung zum Gewährleistungsrecht: Aus- und Einbaukosten beimangelhafter Ware

Folgenden Beitrag halte ich für wichtig für  Händler (Verkäufer), Verbraucher und alle Studenten, die sich im Rahmen ihrer Ausbildung mit Gewährleistungsrecht befassen müssen.

Der EuGH (Urteil v. 16.06.2011, Rs. C-65/09 und Rs. C-87/09) hatte in zwei Vorabentscheidungsverfahren Fragen von deutschen Gerichten zu beantworten.


Dabei geht es um die Frage, wie Art 3 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie zu verstehen ist, wo es wiederum um die Nacherfüllung geht, die bekanntlicherweise in den beiden Formen "Nachlieferung" (Umtausch) und "Nachbesserung" (Reparatur) erfolgen kann. Die Frage ist, ob der Verkäufer auch die Ein- und Ausbaukosten bei einem erforderlichen Umtausch tragen muss, und zwar verschuldensunabhängig. Im Falle von Verschulden (fahrlässige oder vorsätzliche Kenntnis vom Mangel) wäre die Haftung unproblematisch; sie ergibt sich aus der Schadenersatzhaftung für Mangelfolgeschäden.

Der EUGH ging letztlich von einer verschuldensunabhängigen Haftung des Händlers für diese Kosten aus.

Das hat Folgen für die Kalkulation von Händlern, eventuell auch privaten Verkäufern (noch unklar), ferner ist es derzeit höchst examensrelevant im Rahmen des Gewährleistungsrechts, also für Juristen und Betriebswirte.


Der EUGH hat zwei Fälle miteinander verbunden und einheitlich darüber entschieden.


1. Fall - Az C‑65/09 


Ein privater Käufer hatte bei einem Händler Bodenfliesen für 1.400 Euro gekauft. Nachdem er einen Teil der Fliesen in seinem Haus verlegt hatte, stelle er fest, dass sich auf der Oberfläche Schattierungen befanden, die mit bloßem Auge erkennbar waren. Ein Sachverständiger stellte fest, dass sich diese Schattierungen nicht entfernen lassen und die Fliesen komplett ausgetauscht werden müssen, um den Mangel zu beseitigen.  Kosten:  5.800 Euro. Der Händler weigert sich, diese Kosten zu übernehmen, da er von dem Mangel nichts wusste und er nicht davon wissen konnte. Der BGH legte dem Europäischen Gerichtshof die Frage vor, ob sich aus dem "europäischem Recht" ergibt, dass der Verkäufer einer mangelhaften Sache auch die Kosten für den Ausbau der mangelhaften und den Einbau der nachgelieferten Sache tragen muss.

2. Fall - Az C‑87/09

Das zweite Verfahren, welches der EuGH mit seinem Urteil zu entscheiden hatte, betraf eine über das Internet gekaufte Spülmaschine zum Preis von 367 Euro zzgl. 9,52 Euro Nachnahmegebühren.

Nach Einbau der Spülmaschine stellte sich heraus, dass diese einen nicht behebbaren Mangel hatte, der nicht durch die Montage entstanden war. Die Parteien einigten sich daher auf einen Austausch der Maschine. Die Käuferin verlangte aber nicht nur den Austausch der Maschine, sondern auch den Ausbau der alten und den Wiedereinbau der neuen Maschine, ohne dass sie hierfür Kosten tragen müsse. Das Amtsgericht Schorndorf setzte das Verfahren aus und fragte beim EuGH an, ob  Art 3 VerbrGKRiL entsprechend auszulegen ist.

Der Tenor der Entscheidung ist bei EuGH-Entscheidungen nicht am Anfang, sondern ganz am Ende zu finden:



  1. Art. 3 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter ist dahin auszulegen, dass, wenn der vertragsgemäße Zustand eines vertragswidrigen Verbrauchsguts, das vor Auftreten des Mangels vom Verbraucher gutgläubig gemäß seiner Art und seinem Verwendungszweck eingebaut wurde, durch Ersatzlieferung hergestellt wird, der Verkäufer verpflichtet ist, entweder selbst den Ausbau dieses Verbrauchsguts aus der Sache, in die es eingebaut wurde, vorzunehmen und das als Ersatz gelieferte Verbrauchsgut in diese Sache einzubauen, oder die Kosten zu tragen, die für diesen Ausbau und den Einbau des als Ersatz gelieferten Verbrauchsguts notwendig sind. Diese Verpflichtung des Verkäufers besteht unabhängig davon, ob er sich im Kaufvertrag verpflichtet hatte, das ursprünglich gekaufte Verbrauchsgut einzubauen.
     

  2. Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 1999/44 ist dahin auszulegen, dass er ausschließt, dass eine nationale gesetzliche Regelung dem Verkäufer das Recht gewährt, die Ersatzlieferung für ein vertragswidriges Verbrauchsgut als einzig mögliche Art der Abhilfe zu verweigern, weil sie ihm wegen der Verpflichtung, den Ausbau dieses Verbrauchsguts aus der Sache, in die es eingebaut wurde, und den Einbau des als Ersatz gelieferten Verbrauchsguts in diese Sache vorzunehmen, Kosten verursachen würde, die verglichen mit dem Wert, den das Verbrauchsgut hätte, wenn es vertragsgemäß wäre, und der Bedeutung der Vertragswidrigkeit unverhältnismäßig wären. Art. 3 Abs. 3 schließt jedoch nicht aus, dass der Anspruch des Verbrauchers auf Erstattung der Kosten für den Ausbau des mangelhaften Verbrauchsguts und den Einbau des als Ersatz gelieferten Verbrauchsguts in einem solchen Fall auf die Übernahme eines angemessenen Betrags durch den Verkäufer beschränkt wird.

Die Entscheidung wird in allen möglichen Blogs und Rechtsportalen oft so wiedergegeben, dass der "Verkäufer" die Pflicht habe, den Ein- und Ausbau zu übernehmen oder die Kosten hierfür zu erstatten, ferner, dass der "Verkäufer" sich in diesem Fall nicht darauf berufen kann, dass damit die Art der Nacherfüllung unverhältnismäßig ist und er sie verweigern kann. Sind diese Kosten im Einzelfall unverhältnismäßig hoch, kann allerdings eine Herabsetzung des Ersatzanspruchs in Frage kommen. Dann muss der Käufer aber die Möglichkeit haben, statt einer Ersatzlieferung den Kaufpreis angemessen zu mindern oder den Vertrag aufzulösen.

Diese Art der Wiedergabe ist so nicht ganz korrekt, und zwar aus verschiedenen Gründen.


  1. Eigentlich geht es bei der Richtlinie um den "Verbrauchsgüterkauf" also einem unternehmerischen Verkäufer an einen privat auftretenden Käufer. Die Richtlinie gilt nicht beim Handel zwischen Unternehmern, oder beim Handel zwischen Privatleuten, oder beim Verkauf durch Privat an Unternehmer. Ob die Entscheidung nun auch für die anderen Gruppen, also allgemein für "Verkäufer" und "Käufer" gilt, wie es oft formuliert wird,  ist noch zu klären, wenn es auch sehr wahrscheinlich ist.
     

  2. Der EuGH hat nur über die Auslegung einer Richtlinie entschieden, die für den Verbrauchsgüterkauf gilt, nicht über das deutsche Recht, also dem § 439 BGB. Das müssen jetzt der BGH und das Amtsgericht machen und dabei die Ansicht des EuGH über die Richtlinie berücksichtigen.

    Diese Richtlinie ist kein direkt geltendes Recht, sondern nur eine Vorgabe an die Staaten, ihre Gesetze entsprechend auszugestalten, also einen Mindestschutz für Verbraucher einzuführen.

    Speziell im vorliegenden Fall dürfte  sich allerdings die Entscheidung im Endeffekt fast direkt auf das deutsche Recht auswirken, weil sich der § 439 BGB, der die Nacherfüllungspflicht bei Mängel regelt, entsprechend auslegen lässt und damit auch auszulegen ist (europarechtskonforme Auslegung). Aber eigentlich hat der EuGH nichts hierzu gesagt. 

    Der § 439 BGB scheint vom Wortlaut her zunächst solche weitgehenden Verpflichtungen nicht zu erfassen. Durch die EuGH-Entscheidung werden Richter künftig den § 439 BGB anders auslegen müssen und dürfen.
     

  3. Es bleibt die Frage, ob diese Auslegung dann nur für die Fälle des Verbrauchsgüterkaufs gelten soll, oder für alle Kaufverträge. Das ist noch zu klären. Nachdem die Rechtsprechung eine "gespaltene" Auslegung von Normen nicht mag, könnte(!) es dazu kommen, dass die Gerichte die EuGH-Ansichten zunächst für ALLE Kaufverträge anwenden; der deutsche Gesetzgeber kann sich dann überlegen, ob er die Regelung abändert, um den privaten Verkäufern (man denke an ebay) nicht zuviel Risiko aufzuerlegen.

    Der Leser muss sich klarmachen, dass ein privater Verkäufer, wenn sich die Mangelhaftigkeit der Sache herausstellt und er keinen Gewährleistungsausschluss vereinbart hat, die Sache nicht nur zurücknehmen muss, sondern auch noch ein enormes zusätzliches Kostenrisiko trägt. Um diesem Risiko Rechnung zu tragen, müsste man den Preis etwas höher kalkulieren.
     

  4. Auch ist noch zu klären, wie bei dieser weiten Auslegung generell die Abgrenzung Mangelschaden und Mangelfolgeschaden aussehen soll. Denn Ein- und Umbaukosten hätte man bisher als Mangelfolgeschaden eingestuft, für den der Verkäufer nur haftet, wenn ihm auch ein Verschulden bzw. Vertretenmüssen trifft.
     

  5. Und schließlich muss sich der Student noch mit der genauen Konstruktion auseinandersetzen, die im Prüfungsfalle auf ihn zukommt. Aus welchen Paragraphen leitet er die Ersatzansprüche ab, wenn diese Kosten nicht mehr zu den Mangelfolgeschäden, sondern zum Kernschaden gehören?

Die beste Kommentierung der Meldung habe ich (wieder einmal) auf der Seite von juraexamen.info gefunden, und zwar einen Aufsatz von Nicolas Hohn-Hein. Dieser zeigt auch den Paragraphenweg auf, der wahrscheinlich künftig anzuwenden sein dürfte.  Außerdem geht der Aufsatz auch auf die vorangegangene Entwicklung in der deutschen Rechtsprechung ein, z.B. die Dachziegelentscheidung des BGH aus 1983 und den Parkettstäbe-Fall (BGH NJW 2008, 2837).


Nachtrag:

Prof. Dr. Lorenz hat eine Kurzfassung seiner in der NJW abgedruckten Urteilsbesprechung in seine Webseiten eingestellt (http://www.lrz.de/~Lorenz/urteile/rsc-65_09_87_09.htm). Diese ist lesenswert. Sie geht auf oben genannte und weitere Folgefragen ein und zeigt, wie problematisch es ist, die Folgen aus dem Beschluss zu erkennen. Außerdem freut es mich, dass er die Entscheidung offen kritisiert, und im übrigen ebenfalls der Ansicht ist, dass das Urteil unschöne Auswirkungen auf den Handel haben wird:

"Das Urteil ist von einer erschreckend geringen Begründungstiefe und wird sich als Phyrrussieg für die Verbraucher erweisen, für den Einzelhandel stellt es eine Katastrophe dar. Selbstverständlich wird das auf die Preise durchschlagen " (Zitat Lorenz, a.a.O.)

Freitag, 19. August 2011

Kosten für berufliche Erstausbildung und Erststudium unmittelbar nachSchulabschluss können in voller Höhe abziehbar sein

Eine Pressemitteilung des BFH  vom 17. August 2011 informiert über zwei sensationelle Entscheidungen über die Kosten einer Erstausbildung.

Die ist wichtig für Steuergehilfen in Ausbildung, ferner für Steuerberater, aber auch wichtig für alle, die in der Zeit ab 2004 studiert haben oder sonstige Ausbildungskosten hatten.


Der Bundesfinanzhof (BFH) hat mit Urteilen vom 28. Juli 2011 VI R 38/10 und VI R 7/10 entschieden, dass das seit 2004 geltende Abzugsverbot für Kosten eines Erststudiums und einer Erstausbildung der Abziehbarkeit beruflich veranlasster Kosten für eine Erstausbildung oder für ein Erststudium auch dann nicht entgegensteht, wenn der Steuerpflichtige diese Berufsausbildung unmittelbar im Anschluss an seine Schulausbildung aufgenommen hatte. Kurz: Werbungskosten statt Sonderausgaben, und damit höhenmäßig unbegrenzte Berücksichtigung.

In 2004 hat der Gesetzgeber eine Regelung eingeführt, wonach Erstausbildungskosten (auch Studium) als Sonderausgaben und nur in beschränktem Umfang geltend machen kann. Dies war eine Reaktion auf Urteile des BFH, an denen sich die Finanzbehörden störten. Denn diese sahen in Erstausbildungskosten als vorweggenommende Werbungskosten an, sofern ein Bezug zur anschließenden Tätigkeit besteht. Die Ausgaben wurden in der Regel über Verlustvortrag in die Folgejahre geltend gemacht. Die Gesetzesänderung war ein Versuch, die Ausbildungskosten wie  "Kosten der privaten Lebensführung" anzusehen und sie nur noch beschränkt über Sonderausgaben steuerlich zu berücksichtigen.


Dieser Versuch ist gründlich misslungen. Der BFH ist der Ansicht, dass die Regelung nicht ausreichend gestaltet und formuliert ist, um sie so auszulegen. Im übrigen wäre eine solche Auslegung verfassungswidrig angesichts der jüngeren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts.

Damit ist das Urteil ein richtiger Hammer, und auf die Finanzämter dürfen zahlreiche Anträge zu kommen.

Es gibt zwei Urteile mit ähnlichem Sachverhalt. Beide enthalten die wortgleiche Kernbegründung.


  • In einem der vom BFH entschiedenen Fälle nahm der Kläger bei einer Tochtergesellschaft einer Fluglinie die Ausbildung zum Berufspiloten auf. Hierfür entstanden ihm Aufwendungen von annähernd 28.000 €. In dieser Höhe beantragte er mit seiner Einkommensteuererklärung 2004 einen Verlustvortrag festzustellen. Er berief sich darauf, dass diese Ausbildungskosten vorweggenommene Werbungskosten für seine künftige nichtselbstständige Tätigkeit als Pilot seien.

  • Im anderen Streitfall hatte die Klägerin ihre Schulausbildung 2004 mit dem Abitur abgeschlossen und anschließend das Medizinstudium aufgenommen. Auch sie machte ihre Aufwendungen für das Studium als vorweggenommene Werbungskosten geltend und beantragte ebenfalls eine entsprechende Verlustfeststellung.

Urteil des VI.  Senats vom 28.7.2011 - VI R 38/10 -,

Urteil des VI.  Senats vom 28.7.2011 - VI R 7/10 -

Die Finanzämter lehnten die beantragten Verlustfeststellungen ab. Sie beriefen sich dazu auf die ab 2004 geltende Regelung des § 12 Nr. 5 des Einkommensteuergesetzes (EStG), die bestimme, dass Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung und für ein Erststudium im Rahmen der Einkünfteermittlung nicht abziehbar sind, wenn die Aufwendungen nicht im Rahmen eines Dienstverhältnisses stattfinden. Dieser Auffassung folgten auch die Finanzgerichte. Der BFH war aber anderer Ansicht und hebelte damit praktisch die seit 2004 geltende Neuregelung in großen Teilen aus.

Der BFH entschied, dass aus § 12 Nr. 5 EStG kein solches generelles Abzugsverbot folge. Denn § 12 Nr. 5 EStG regele ausdrücklich, dass Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung und für ein Erststudium bei den einzelnen Einkunftsarten und vom Gesamtbetrag der Einkünfte nur insoweit nicht abgezogen werden dürften, als in § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG nicht etwas anderes bestimmt sei. § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG bestimme jedoch etwas anderes. Denn danach greife der Grundsatz, dass Aufwendungen nur dann als Sonderausgaben abziehbar sind, wenn nicht der vorrangige Werbungskosten- und Betriebsausgabenabzug zur Anwendung kommt. In beiden Fällen seien aber die Kosten der Ausbildung hinreichend konkret durch die spätere Berufstätigkeit der Kläger veranlasst, so dass sie als vorweggenommene Werbungskosten berücksichtigt werden müssten.

Hier ist der entscheidende Ausschnitt aus den Entscheidungsgründen:

10 (= Randnummer)
   
II. Die Revision der Klägerin ist begründet; sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Das FG hat die Aufwendungen der Klägerin für ihre Ausbildung als Medizinerin zu Unrecht ohne weitere Prüfung vom Abzug als (vorweggenommene) Werbungskosten gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ausgeschlossen.

11
   
1. Werbungskosten sind nach § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen. Nach Angleichung des Begriffs der Werbungskosten an den der Betriebsausgaben nach § 4 Abs. 4 EStG (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 4. März 1986 VIII R 188/84, BFHE 146, 151, BStBl II 1986, 373) liegen Werbungskosten vor, wenn sie durch den Beruf oder durch die Erzielung steuerpflichtiger Einnahmen veranlasst sind. Nach dem einkommensteuerrechtlichen Nettoprinzip ist für die Abgrenzung beruflicher Aufwendungen das Veranlassungsprinzip maßgebend. Die Aufwendungen sind danach beruflich veranlasst, wenn ein objektiver Zusammenhang mit dem Beruf besteht und die Aufwendungen subjektiv zur Förderung des Berufs geleistet werden (Urteil des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 9. Dezember 2008  2 BvL 1/07 u.a., BVerfGE 122, 210; BFH-Beschluss vom 21. September 2009 GrS 1/06, BFHE 227, 1, BStBl II 2010, 672). Dabei ist ausreichend, wenn die Ausgaben den Beruf des Arbeitnehmers im weitesten Sinne fördern (Urteile des erkennenden Senats vom 4. Dezember 2002 VI R 120/01, BFHE 201, 156, BStBl II 2003, 403; vom 17. Dezember 2002 VI R 137/01, BFHE 201, 211, BStBl II 2003, 407; jeweils m.w.N.).

12
   
a) Dies gilt nach ständiger Rechtsprechung des BFH grundsätzlich auch dann, wenn der Steuerpflichtige gegenwärtig noch keine Einnahmen erzielt. Dann sind die Aufwendungen als vorab entstandene Werbungskosten abziehbar, wenn sie in einem hinreichend konkreten, objektiv feststellbaren Veranlassungszusammenhang mit späteren Einnahmen stehen (BFH-Urteile vom 18. April 1996 VI R 89/93, BFHE 180, 353, BStBl II 1996, 449; vom 19. April 1996 VI R 24/95, BFHE 180, 360, BStBl II 1996, 452).

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b) Nach der Rechtsprechung des Senats (Urteile in BFHE 201, 156, BStBl II 2003, 403; in BFHE 201, 211, BStBl II 2003, 407) kann der erforderliche Veranlassungszusammenhang auch bei berufsbezogenen Bildungsmaßnahmen erfüllt sein. Denn § 9 EStG enthält keine Sonderregelung zu Berufsbildungskosten. Entscheidend bleibt daher nach den vorgenannten Grundsätzen auch insoweit, ob die Aufwendungen in einem hinreichend konkreten Veranlassungszusammenhang zur nachfolgenden auf die Erzielung von Einkünften gerichteten Berufstätigkeit stehen.

14
   
c) Der Werbungskostenabzug ist gegenüber dem Abzug von Aufwendungen als Sonderausgaben vorrangig. Das ist ein allgemeiner, für alle Sonderausgaben durch den Einleitungssatz zu § 10 Abs. 1 EStG normierter Grundsatz. Wie der Senat schon früher entschieden hatte (Urteile in BFHE 201, 156, BStBl II 2003, 403; in BFHE 201, 211, BStBl II 2003, 407), steht § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG dem Abzug der Berufsbildungskosten als Werbungskosten nicht entgegen. Denn nach dem Einleitungssatz zu § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG sind Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine Berufsausbildung nur dann Sonderausgaben, "wenn sie weder Betriebsausgaben noch Werbungskosten sind".

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Dieser Vorrang für den Werbungskostenabzug gilt unverändert und insbesondere auch nach der Neuregelung des Abzugs der Berufsausbildungskosten und der Einführung des § 12 Nr. 5 EStG durch das Gesetz zur Änderung der Abgabenordnung und weiterer Gesetze vom 21. Juli 2004 (BGBl I 2004, 1753). Denn auch § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG i.d.F. dieses Änderungsgesetzes (BGBl I 2004, 1753) sieht den Abzug der Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine Berufsausbildung nur dann als Sonderausgaben vor, "wenn sie weder Betriebsausgaben noch Werbungskosten sind". Danach entfaltet § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG unverändert keine Sperrwirkung gegenüber dem Werbungskostenabzug (vgl. zuletzt Senatsentscheidung vom 18. Juni 2009 VI R 14/07, BFHE 225, 393, BStBl II 2010, 816, m.w.N.). Der Abzug der Aufwendungen als Erwerbsaufwendungen bleibt danach vielmehr gegenüber deren Abzug als Sonderausgaben vorrangig.

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d) Auch § 12 Nr. 5 EStG lässt den Vorrang des Werbungskostenabzugs gegenüber dem als Sonderausgaben unberührt und steht daher dem Abzug der Berufsbildungskosten als Werbungskosten nicht entgegen. Dies gilt nicht nur für den vom Senat schon entschiedenen Fall, dass der Ausbildung oder dem sog. Erststudium eine abgeschlossene Berufsausbildung vorangegangen ist (dazu Urteil in BFHE 225, 393, BStBl II 2010, 816), sondern auch dann, wenn die Ausbildung eine Erstausbildung ist und die dafür getätigten Aufwendungen in einem hinreichend konkreten Veranlassungszusammenhang mit der späteren der Einkünfteerzielung dienenden Berufstätigkeit stehen.

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aa) Nach § 12 Nr. 5 EStG sind Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung und für ein Erststudium nur insoweit weder bei den einzelnen Einkunftsarten noch vom Gesamtbetrag der Einkünfte abzuziehen, als "in § 10 Abs. 1 Nr. 1, 2, 4, 6, 7 und 9, § 10a, § 10b und §§ 33 bis 33c nichts anderes bestimmt ist". § 12 Nr. 5 EStG schließt damit nicht per se und ausnahmslos den Betriebsausgaben- und Werbungskostenabzug aus, wie dies etwa § 4 Abs. 5 Satz 1 Nrn. 1 bis 11 EStG i.V.m. § 9 Abs. 5 EStG als allgemeines einkommensteuerrechtliches Regelungsmodell zur Begrenzung des Abzugs normiert, wenn der Aufwand zugleich auch die private Lebenssphäre berührt (BVerfG-Urteil in BVerfGE 122, 210, C.II.1.). § 12 Nr. 5 EStG steht vielmehr --wie auch § 12 Nrn. 1 bis 4 EStG und vergleichbar mit § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG-- unter dem Anwendungsvorbehalt seines Einleitungssatzes. Danach bestimmt der dort in Bezug genommene § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG insoweit etwas anderes, als die Aufwendungen für die eigene Berufsausbildung als Sonderausgaben abgezogen werden können, wenn sie weder Werbungskosten noch Betriebsausgaben sind. Wenn indessen § 12 Nr. 5 EStG den vorrangigen Sonderausgabenabzug anordnet, der vorrangige Sonderausgabenabzug aber seinerseits --wie dargelegt-- unter dem Vorbehalt steht, dass die Aufwendungen nicht als Erwerbsaufwendungen (Werbungskosten, Betriebsausgaben) zu beurteilen sind, bleibt im Ergebnis auch durch § 12 Nr. 5 EStG der vorrangige Werbungskostenabzug grundsätzlich unberührt. Deshalb sind Aufwendungen für die eigene Berufsausbildung auch unter Geltung des § 12 Nr. 5 EStG als Werbungskosten abziehbar, sofern ein hinreichend konkreter Veranlassungszusammenhang zwischen den Aufwendungen und der späteren auf Einkünfteerzielung gerichteten Berufstätigkeit besteht.

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bb) Das (klarstellende) Abzugsverbot in § 12 Nr. 5 EStG ist damit allerdings nicht gegenstandslos. § 12 Nr. 5 EStG hat eine ähnliche Funktion wie der systematisch gleichrangige § 12 Nr. 1 EStG. § 12 Nr. 5 EStG begrenzt den Werbungskostenabzug in keinem größeren Umfang als etwa § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG, der zwar privat veranlasste Kosten im einkommensteuerrechtlich Unerheblichen belässt, aber deren beruflich veranlassten Teil nicht vom Werbungskostenabzug ausnimmt, so etwa die dem beruflichen Teil zuzuordnenden Reise-, PKW- oder Telefonkosten (BFH-Beschluss in BFHE 227, 1, BStBl II 2010, 672). Der Senat (Urteile in BFHE 201, 156, BStBl II 2003, 403; in BFHE 201, 211, BStBl II 2003, 407) hatte bereits vor Ergänzung des § 12 EStG durch dessen Nr. 5 entschieden, dass § 12 Nr. 1 Satz 1 und Satz 2 EStG einem Abzug der Aufwendungen für ein aus beruflichen Gründen aufgenommenes Erststudium als Werbungskosten nicht entgegensteht, weil solche Kosten nicht zugleich Aufwendungen für die private Lebensführung darstellten, welche die wirtschaftliche oder gesellschaftliche Stellung des Steuerpflichtigen mit sich bringt. § 12 Nr. 1 EStG wolle insbesondere verhindern, dass ein Steuerpflichtiger die Aufwendungen für seine Lebensführung nur deshalb steuerlich geltend machen könne, weil er einen entsprechenden Beruf habe, während andere Steuerpflichtige gleichartige Aufwendungen aus versteuerten Einkommen decken müssten. Sind die Aufwendungen indessen aus beruflichen Gründen entstanden, liegen eben keine Aufwendungen der privaten Lebensführung vor, die i.S. des § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung des Steuerpflichtigen mit sich bringt. Das die Aufwendungen auslösende, maßgebliche Moment entstammt dann der beruflichen und nicht der privaten Sphäre (so zuletzt Senatsurteil in BFHE 225, 393, BStBl II 2010, 816, m.w.N.). Die Aufwendungen sind dann als Werbungskosten abziehbar; das gebietet nicht zuletzt auch das Gebot der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (BFH-Beschluss in BFHE 227, 1, BStBl II 2010, 672).

19
   
In vergleichbarer Weise regelt § 12 Nr. 5 EStG den Bereich der Aufwendungen für die eigene Berufsausbildung. Danach sind allgemeine Bildungsaufwendungen, die in keinem hinreichend konkreten Veranlassungszusammenhang zu einer gegenwärtigen oder künftigen beruflichen Tätigkeit stehen, auf Grundlage des Anwendungsvorbehalts des § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG als Sonderausgaben abziehbar. Besteht indessen ein hinreichend konkreter Veranlassungszusammenhang zwischen diesen Aufwendungen und einer beruflichen Tätigkeit, schließt § 12 Nr. 5 EStG mit seinem ausdrücklichen Verweis auf § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG den dort normierten Anwendungsvorrang des Betriebsausgaben- und Werbungskostenabzugs nicht aus.

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e) Das FA und das beigetretene BMF können sich zur Begründung ihrer entgegenstehenden Rechtsauffassung nicht auf den Willen des Gesetzgebers stützen. Denn die allein im Ausschussbericht (BTDrucks 15/3339, S. 10 f.) erkennbar gewordene Auffassung, nach der jedenfalls die Ausschussmehrheit die Aufwendungen für die erste Berufsausbildung den Kosten der Lebensführung zurechnen wollte, bildet sich nicht in einer Weise hinreichend konkret in dem an § 12 EStG angefügten Nr. 5 und dem im Übrigen unveränderten Normengefüge ab, dass darauf gestützt der Werbungskostenabzug für Aufwendungen der ersten Berufsausbildung auch dann ausgeschlossen ist, wenn die Aufwendungen einen hinreichend konkreten Veranlassungszusammenhang zur späteren Berufstätigkeit und den damit erzielten Einkünften aufweisen. Im Zweifel ist mangels eindeutiger gesetzlicher Regelungen bei der Auslegung der Norm dem Wortlaut und dem systematischen Zusammenwirken der §§ 9 Abs. 1, 10 Abs. 1 Nr. 7, 12 EStG sowie dem für den Werbungskostenabzug tragenden Veranlassungsprinzip der Vorzug zu geben.

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aa) Ausweislich der Einzelbegründung zu § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG und § 12 Nr. 5 EStG (BTDrucks 15/3339, S. 10 f.) sollte die jüngste Rechtsprechung des BFH zur einkommensteuerrechtlichen Behandlung der Ausbildungskosten zum Anlass genommen werden, diese einkommensteuerrechtliche Behandlung neu zu ordnen, um die Aufwendungen eines Steuerpflichtigen für seine Ausbildung in erheblich größerem Umfang als bisher gesetzlich zu berücksichtigen. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BFH (Urteile in BFHE 201, 156, BStBl II 2003, 403; in BFHE 201, 211, BStBl II 2003, 407; vom 27. Mai 2003 VI R 33/01, BFHE 202, 314, BStBl II 2004, 884), welche die Aufwendungen für eine Umschulungsmaßnahme, die Aufwendungen für ein berufsbegleitendes erstmaliges Hochschulstudium sowie die Aufwendungen für eine --nach abgebrochenem Studium-- erstmalige Berufsausbildung als Pilot jeweils als Werbungskosten qualifizierte, sollte sich die Neuordnung der Berufsausbildungskosten weitgehend an diesem grundsätzlichen Ansatz des BFH orientieren. Andererseits gehöre --so die Begründung-- auch in einer modernen entwickelten Gesellschaft die erste Berufsausbildung typischerweise zu den Grundvoraussetzungen für eine Lebensführung. Das Erlernen der Grundlage eines Berufs diene dem Erwerb einer selbständigen und gesicherten Position, so dass die Aufwendungen für die erste Berufsausbildung und für ein Erststudium ebenso wie die für Erziehung und andere Grundbedürfnisse schwerpunktmäßig und untrennbar zu den Kosten der Lebensführung gehörten.

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bb) Der neu geschaffene § 12 Nr. 5 EStG setzt jedoch, wie dargelegt, nach Wortlaut und systematischem Zusammenhang das für den Werbungskostenabzug tragende Veranlassungsprinzip nicht außer Kraft. Aber auch unter Berücksichtigung der vorgefundenen Gesetzesmaterialien lässt sich kein grundlegender Systemwechsel erkennen, der das gesamte und insbesondere unverändert fortgeltende übrige Normengefüge des Werbungskosten- und Sonderausgabenabzugs (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nrn. 1 bis 11, § 9 Abs. 1, 5, § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG) außer Kraft setzen sollte. Denn zum einen sollten danach die aus § 9 Abs. 1, § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG hergeleiteten Grundsätze der Rechtsprechung des BFH zu dem für den Werbungskostenabzug erforderlichen und für die Zuordnungsentscheidung tragenden Veranlassungszusammenhang zwischen Berufsausbildungskosten und späteren Einkünften offenbar unverändert fortgelten. Zum anderen ordnet sogar der mit der Neuregelung geschaffene § 12 Nr. 5  2. Halbsatz EStG selbst die Aufwendungen für eine auch erste Berufsausbildung nicht vorrangig dem Sonderausgabenabzug zu. Die Neuregelung selbst geht damit offensichtlich davon aus, dass solche Aufwendungen jedenfalls dann Werbungskosten sein können, soweit sie im Rahmen eines Dienstverhältnisses entstehen, also offenkundig einen hinreichend konkreten Veranlassungszusammenhang zur Berufstätigkeit aufweisen. Und dieses Wortlautverständnis wird gerade durch die Begründung zu § 12 Nr. 5  2. Halbsatz EStG bestätigt. Denn danach dienen diese Kosten unmittelbar dazu, Einnahmen in einem bestehenden Dienstverhältnis zu erzielen, und werden daher zu mit positiven Einkünften verrechenbaren Werbungskosten erklärt (BTDrucks 15/3339, S. 11).

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cc) Ein grundlegender Systemwechsel setzt die Schaffung eines wirklich neuen Regelwerks voraus. Davon kann insbesondere dann nicht ausgegangen werden, wenn trotz Bekundungen im Gesetzgebungsverfahren bei der Neuregelung im Übrigen unverändert an bisherigen Grundentscheidungen und Grundprinzipien festgehalten wird. Lässt sich aus der neu geschaffenen materiellen Rechtslage ein solcher grundlegender Systemwechsel nicht entnehmen, kann nach dem Urteil des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit der Pendlerpauschale (in BVerfGE 122, 210 zur Neuregelung des § 9 Abs. 2 Sätze 1, 2 EStG i.d.F. des Steueränderungsgesetzes 2007 --StändG 2007-- vom 19. Juli 2006, BGBl I 2006, 1652) die gesetzliche Neuregelung mangels verfassungsrechtlich erforderlicher Folgerichtigkeit verfassungswidrig sein. Vergleichbar damit bietet mangels eines festzustellenden grundlegenden Systemwechsels allein eine Äußerung im Gesetzgebungsverfahren auch noch keine tragfähige Grundlage für eine Auslegung, die aus den vorgenannten Gründen dem Wortlaut und einer im Übrigen erkennbar beibehaltenen Systematik zuwiderläuft.

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dd) Angesichts dessen kann hier dahinstehen, ob und inwieweit der Gesetzgeber von Verfassungs wegen berechtigt wäre, abweichend von der bisherigen einfachrechtlichen einkommensteuerrechtlichen Qualifikation der Berufsausbildungsaufwendungen als Werbungskosten diese als privat mitveranlasst anzusehen und insoweit den Betriebsausgaben- und Werbungskostenabzug auszuschließen. Denn auch bei einem auf multikausale und multifinale Wirkungszusammenhänge gestützten weiten Typisierungsspielraum des Gesetzgebers (BVerfG-Urteil in BVerfGE 122, 210, C.II.4.) wäre zu beachten, dass die einkommensteuerrechtliche Berücksichtigung privat veranlassten Aufwands nicht ohne weiteres zur Disposition des Gesetzgebers steht. Nach der Rechtsprechung des BVerfG kommt es nicht auf die einfachrechtliche Differenzierung zwischen beruflichem und privatem Veranlassungszusammenhang an, sondern auf die Unterscheidung zwischen freier oder beliebiger Einkommensverwendung einerseits und zwangsläufigem und pflichtbestimmtem Aufwand andererseits (BVerfG-Urteil in BVerfGE 122, 210, C.I.3.c, m.w.N.).

25
   
Ebenso kann deshalb die Frage dahinstehen, ob die Neuregelung gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt, weil sie --etwa vergleichbar mit § 9 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Satz 2 EStG i.d.F. des StÄndG 2007 --von dem nach dem einkommensteuerrechtlichen Nettoprinzip für die Abgrenzung beruflicher Aufwendungen maßgeblichen Veranlassungsprinzip singulär abweicht (BVerfG-Urteil in BVerfGE 122, 210, C.II.1.). Entsprechendes gilt schließlich für die Frage, ob das aus Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes hergeleitete Prinzip des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes einer rückwirkenden Anwendung des § 12 Nr. 5 EStG entgegensteht.

26
   
f) Auf Grundlage der vorgenannten Gründe hält der erkennende Senat nicht mehr an der in seinen Urteilen vom 18. Juni 2009 (in BFHE 225, 393, BStBl II 2010, 816; VI R 31/07, BFH/NV 2009, 1797; u.a.) vertretenen, dort allerdings nicht entscheidungserheblichen Auffassung fest, wonach § 12 Nr. 5 EStG in typisierender Weise bestimme, dass Aufwendungen für eine erstmalige Berufsausbildung --von dem in Halbsatz 2 der Vorschrift genannten Fall abgesehen-- noch nicht mit einer konkreten beruflichen Tätigkeit und hieraus fließenden Einnahmen im Zusammenhang stehen.

Denn diese Auffassung könnte zwar der Sichtweise der Begründung des § 12 Nr. 5 EStG (BTDrucks 15/3339, S. 10) entsprechen, findet aber, wie dargelegt, keine hinreichende Grundlage im Wortlaut der Norm.

27
   
2. Nach diesen Grundsätzen können Aufwendungen für ein im Anschluss an das Abitur durchgeführtes Medizinstudium auch unter Geltung des § 12 Nr. 5 EStG als vorab entstandene Werbungskosten anzuerkennen sein. Die Sache ist allerdings nicht entscheidungsreif. Denn das FG hat --aus seiner Sicht zu Recht-- noch nicht geprüft, ob und welche Aufwendungen der Klägerin durch das Studium beruflich veranlasst und damit dem Grunde nach vorweggenommene Werbungskosten i.S. von § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG sind. Ein solcher Veranlassungszusammenhang ist regelmäßig gegeben, wenn das Studium Berufswissen vermittelt und damit auf die Erzielung von Einnahmen gerichtet ist (s. dazu Senatsentscheidungen vom 20. Juli 2006 VI R 26/05, BFHE 214, 370, BStBl II 2006, 764; in BFHE 225, 393, BStBl II 2010, 816; in BFH/NV 2009, 1797).


Ende Urteilsauszug

Mittwoch, 17. August 2011

Streit um die Bettensteuer

Manchmal, im Unterricht, frotzeln Steuerfach-Schüler und Dozent gemeinsam darüber, welche Steuerarten sich der Staat noch einfallen lassen könnte. Luftsteuer, Erdsteuer, Wassersteuer? Zu solchen Frotzeleien würde ganz gut die "Bettensteuer" passen. Nur,  dass es die wirklich gibt. Einige Gemeinden haben sie bereits eingeführt und weitere bereiten sie vor. Allerdings ist die Zulässigkeit äußerst umstritten.


Worum geht es? Um eine Abgabe, die die Hotelgäste für Hotelübernachtungen zahlen müssen, auch Kulturförderabgabe genannt.. Ähnliches kennt man bei der Kurtaxe. Der Steuerfachangestellte lernt in der Ausbildung, dass die Kurtaxe keine Steuer ist, sondern ein Beispiel für öffentliche "Beiträge". Steuer ist es keine, weil ein Beitrag Gegenleistungscharakter hat, und die Steuerdefinition solche Abgaben vom Steuerbegriff ausklammert (§ 3 Abs. 1 Abgabenordnung). Beiträge sind "Entgelte für Bereitstellung öffentlicher Einrichtungen für Sondergruppen", so wie z.B. die Kurtaxe, mit denen die Einrichtungen in Kurorten mit finanziert werden.

Das ist bei der Bettensteuer aber gar nicht das Problem. Hier geht es nicht um Kurorte, sondern um beliebige Orte, die mit dieser Steuer die Kulturförderung finanzieren wollen. Der Streit geht aber darum, ob es von der Art her eine Gemeindesteuer sein kann oder ob Bund und Länder zuständig sind. Zugegeben - für die Ausbildung nicht relevant, da zu tief gehend. Normalerweise klammere ich solche Themen aus, aber von der Existenz der Bettensteuer und von dem Streit um diese Steuer sollte man doch etwas gehört haben.

Über diese Bettensteuer gibt es einen äußerst ausführlichen  Aufsatz von Cecilia Hardenberg, Diplom-Wirtschaftsjuristin, M.I.Tax und Fachjournalistin aus Ravensburg auf den ich verweise. Den Aufsatz fand ich auf den Webseiten des Haufe-Verlags.

Ist diese Bettensteuer zulässig? Dürfen Gemeinden diese Steuer einführen oder fehlt ihnen hierzu die Kompetenz?  Weimar – im Jahre 1999 die Kulturhauptstadt Europas – lebte es vor, dnn es hat sie schon im Jahr 2005 eingeführt: die Kulturförderabgabe auf Übernachtungen und Eintrittskarten.  So muss seit Beginn des Jahres 2005 jeder Hotelgast in Weimar je nach Größe des Hotels 1 - 2 EUR pro Übernachtung (§ 4 der Satzung zur Erhebung einer Kulturförderabgabe vom 18.2.2005) und 0,70 bis 0,90 EUR pro Eintrittskarte Sonderabgabe bezahlen.

Laut einer Meldung des DIHK (Deutscher Industrie- und Handelskammertag, Newsletter vom 21.7.2011) haben bereits 20 Kommunen die  Idee von Weimar nachgeahmt: Köln, Osnabrück, Duisburg, Oberhausen, Trier, Bremen, Darmstadt, Göttingen, Saarbrücken, Jena, Erfurt und Zwickau  (zuletzt Göttingen zum 1.7.2011). Darüber hinaus stünden weitere 70 Kommunen in konkreten Planungen

Die Kommune Köln gilt als Vorreiter auf dem Gebiet der Bettensteuer,  denn hier entstand nicht nur die Idee, die Weimarer Steuer nachzuahmen (laut dem Kölner Stadt-Anzeiger gilt Norbert Walter-Borjans, der NRW-Finanzminister, als Bettensteuer-“Erfinder“), sondern die Großstadt Köln scheint mit ihrer Bettensteuer neben Bingen und Trier auch schon am Weitesten zu sein.

So hat das Verwaltungsgericht Köln am 20.7.2011 (Az.: 24 K 6736/10) die Kulturförderabgabe für rechtmäßig erklärt und damit den Weg für die "Bettensteuer" frei gemacht. Das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz hat bereits am 17.5.2011 (Az.:  6 C 11337/10.OVG und 6 C 11408./10.OVG) die Sonderabgabe für rechtmäßig erklärt und teilt damit die Auffassung des Verwaltungsgerichts Köln.  Verwaltungsgericht München hat am 30.6.2011 das Gegenteil entschieden (Az.: M 10 K 10.5725): Es hält die von der Stadt München geplante Bettensteuer für unzulässig. Bei diesen Streitigketen geht es im Kern darum, ob die Steuer  als "örtliche Aufwandsteuer" durchgeht und damit von einer Gemeinde eingeführt werden kann. Anderenfalls wäre das Land oder der Bund zuständig. Wer sich für die Einzelheiten interessiert, kann in oben genannten Aufsatz Näheres erfahren.

Dienstag, 16. August 2011

Steuerabkommen mit der Schweiz begünstigt Steuersünder - Deutschlands Kriminalbeamte sind wütend

"Der Finanzminister bereitet größte Strafbefreiung der deutschen Geschichte vor", schimpft der Bund Deutscher Kriminalbeamter, und meint damit das Steuerabkommen mit der Schweiz.


Hintergrund:  Die Unterhändler der Schweiz und Deutschlands haben in Bern die Verhandlungen über offene Steuerfragen abgeschlossen und ein Steuerabkommen paraphiert. Es sieht vor, dass Personen mit Wohnsitz in Deutschland ihre bestehenden Bankbeziehungen in der Schweiz nachbesteuern können, indem sie entweder eine einmalige Steuerzahlung leisten oder ihre Konten offenlegen.


Man muss vorsichtig sein mit der Zusammenfassung komplexer Vorgänge - aber die vorgenannte Formulierung stammt aus der offiziellen Pressemitteilung der Regierung.


Nun gibt es eine verbitterte Verlautbarung des Bundes Deutscher Kriminalbeamter. Und die bringt mehr Informationen und böse Anklagen. Wenn die vorgebrachten Details stimmen, dann ist allerdings die Verärgerung verständlich. Ich bin selbst etwas sprachlos. Ich unterrichte seit 20 Jahren Steuern und Steuerlehre, und mir ist in der jüngsten Zeit klar geworden, dass die Steuergesetzgebung der letzten Jahre (egal unter welcher Regierung) so katastrophal, konfus und skurril geworden ist, dass ich dringend anfangen muss, darüber zu bloggen. Und diese Meldung passt wunderbar in das gesamte Bild, nein, eigentlich sprengt es den Rahmen.



Ein dreistelliger Milliardenbetrag bislang unbekannten Vermögens deutscher Staatsbürger schlummert auf geheimen Konten und Depots Schweizer Banken. Nach dem Willen des Finanzministers soll das auch so bleiben. In öffentlichen Verlautbarungen und Presseberichten wird verharmlosend von „Schwarzgeld“ und „Steuersündern“ gesprochen.  Tatsächlich aber stamme ein hoher Anteil dieser Vermögensmassen aus kriminellen Aktivitäten deutscher Straftäter,   verlautbart der Bund Deutscher Kriminalbeamter in einer Pressemitteilung.  Es handle sich um Gelder aus Betrug, Untreue, Drogengeschäften, Menschenhandel, Korruption und Organisierter Kriminalität, um nur einige Beispiele zu nennen.


"Der Umgang der Bundesregierung diesen Kriminalitätsformen gegenüber ist mit Worten nicht mehr zu greifen. Da doktert ein und dasselbe Finanzministerium an den Geldwäschevorschriften herum, um bis zum Jahresende wenigstens formell den internationalen Vorgaben zu genügen, und legalisiert zeitgleich eine der größten Geldwaschanlagen Europas.“, schimpft Sebastian Fiedler, einer der Sprecher einer Initiative des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), der Deutschen Steuer-Gewerkschaft (DStG), des Bundes der Richter und Staatsanwälte in NRW (DRB-NRW) und der Deutschen Zoll- und Finanzgewerkschaft (BDZ), die es sich auf die Fahne geschrieben hat, die Geldwäschebekämpfung in Deutschland zu forcieren.


Die professionellsten Steuerbetrüger und Verbrecher müssen sich künftig nicht mehr um ihr illegales Vermögen in der Schweiz sorgen - sie zahlen einfach anonym einen Abschlag an den deutschen Fiskus und können fortan ruhig schlafen, da ihre Straftaten unentdeckt bleiben werden, beklagt sich der Verband. Ob das so stimmt, ob und inwieweit die Vereinbarung mit der Schweiz auch eine Steuerbefreiung neben der Steuernachzahlung vorsieht, kann ich allerdings derzeit nicht sagen, da mir nicht genügend Details bekannt sind.


Darüber hinaus habe sich die Bundesregierung nun der Schweiz gegenüber verpflichtet, auf Ankäufe von Steuer-CDs in der Zukunft zu verzichten - trotz der durchschlagenden Erfolge der deutschen Strafverfolgungs- und Finanzbehörden. Wenn das stimmt - das wäre schon der Hammer.


„Wenn die Kriminalpolizeien des Bundes und der Länder aus Überlastungsgründen ihre Akten nicht bearbeitet bekommen, müssen die Kolleginnen und Kollegen mit Strafverfahren wegen Strafvereitelung im Amte rechnen. Was hier nun passiert, geht um Lichtjahre darüber hinaus. Wir werden uns mal Gedanken machen müssen wie das Verhalten des Bundesfinanzministers, seines Staatssekretärs und der beteiligten Ministerialbeamten strafrechtlich zu würdigen ist. Hier wird bewusst und gewollt aus vermeintlich fiskalischen Gründen die Strafverfolgung vereitelt.“, rügt Sebastian Fiedler.  Oh, oh, da herrscht wirklich böse Stimmung.


Und Fiedler führt weiter aus: „Nicht nur der ehrliche Steuerzahler ist der Dumme, auch die deutschen Strafverfolger, Steuerfahnder, Finanzbeamten, Zöllner und Staatsanwälte müssen sich angesichts des Vorhabens veralbert vorkommen.“


Dieser Beitrag ist in abgewandelter Form auch im e-magazin erschienen.

Sonntag, 14. August 2011

Medienpädagogik: Lightwork Videoschnittsoftware jetzt kostenlos

Das Programm "Lightworks" ist ein professionelles Videoschnittprogramm, mit dem Kinofilme geschnitten wurden und mit Preisen ausgezeichnet wurden - ja sogar mit dem Oscar selbst. Im Dezember hatten die Macher das Programm kostenlos als OpenSource zur Verfügung gestellt. Damit ging nicht nur für Filmemacher ein Traum in Erfüllung, auch und gerade im Bereich Schule und Bildung - also im Bereich Medienpädagogik, hat die Meldung eingeschlagen. Denn in diesem Bereich ist kostenlose Software wichtig.


Eike Rösch hatte dies auf dem Blog "medienpaedagogik-praxis.de" schon im Dezember vermeldet. Damals hatte ich keine  Zeit, darüber zu schreiben. Die Kommentare auf der Seite von Medienpädagogik-Praxis zeigt aber auch, dass manche Lehrer das Programm als etwas zu lernaufwändig sehen. Es ist offenbar nicht gerade intuitiv. Aber lesen Sie selbst:

http://www.medienpaedagogik-praxis.de/....

Den Beitrag habe ich, da er außer dem Hinweis auch technische Tipps zur Software gibt, im User-Archiv eingetragen (www.user-archiv.de) und wenn ich gelegentlich Zeit habe, werde ich das Web nach Tutorials durchforsten und diese ebenfalls eintragen (bis jetzt kann ich mich noch nicht dazu durchringen, die Eingabemaske wieder der Allgemeinheit frei zu geben).

Die Webseite medienpaedagogik-praxis.de ist übrigens für jeden Lehrer und Dozent höchst empfehlenswert, schon deswegen, weil man im Bildungsbereich - selbst wenn man nur Steuern und BWL unterrichtet - stets mit dem Thema Computer und  Software konfrontiert ist. Ich habe diesen Blog schon seit längerem per RSS-Feed abonniert und er ist einer der wenigen Feeds, die ich beibehalten habe.

Samstag, 13. August 2011

Vorsicht bei Aufrechnungsklauseln in AGB

Ein Student wies mich auf eine BGH-Entscheidung hin, die er auf it-recht-kanzlei.de gefunden habe. Dabei ging es um die Unwirksamkeit einer Aufrechnungsklausel.


In seinem Urteil vom 07. April 2011 (Az.: VII ZR 209/07) erklärte der BGH eine dieser typischer Weise verwendeten AGB-Klauseln, nach der eine Aufrechnung gegen den Honoraranspruch des Bestellers „nur mit einer unbestrittenen oder rechtskräftig gestellten Forderung“ zulässig sei, jedoch für unwirksam


In dem vom BGH zu entscheidenden Fall hatte der Auftraggeber eines Architekten Abschlagszahlungen nicht mehr bezahlt, woraufhin der Architekt den Architektenvertrag über den Neubau eines Gebäudes kündigte und sein Honorar verlangte. Gegenüber der Honorarforderung des Architekten erklärte der Auftraggeber die Aufrechnung mit Schadensersatzansprüchen wegen mangelhafter Planung und Bauüberwachung. Daraufhin berief sich der Architekt auf folgende in seinen AGB verwandte Klausel, die auch heute noch häufig in AGBs zu finden ist::


Eine Aufrechnung gegen den Honoraranspruch ist nur mit einer unbestrittenen oder rechtskräftig festgestellten Forderung zulässig.


Der Student war verwirrt, weil das doch scheinbar schon im § 309 Nr. 3 BGB fest vorgeschrieben ist.


Der genannte § 309 Nr. 3 betrifft aber die Aufrechung mit unbestrittenen/rechtskräftigen Gegenforderungen. Solche Fälle hat die angegriffene AGB-Klausel aber in Ruhe gelassen. Vielmehr hat es alle anderen Gegenforderungen ausgeschlossen.


Das aber ist nach Ansicht des BGH ebenfalls unzulässig, wenn es so allgemein wie hier formuliert ist. Denn damit werden auch Einwendungen aus mangelhaften oder unvollständigen Leistungen abgeschnitten, dem Kunden also praktisch seine Leistungsverweigerungsrechte verwehrt. Dies darf in allgemeinen Geschäftsbedingungen nicht erfolgen. Das ergibt sich aber natürlich nicht aus § 309 Nr. 3  sondern aus einer anderen Regelung, nämlich § 309 Nr. 2 a


Der BGH zitiert dabei sowohl § 11 Nr. 2 a AGBG als auch 309 Nr. 2a BGB. Eigentlich war nur der § 11 Nr. 2 a AGBG entscheidungserheblich, denn der Vorgang fand vor der BGB-Reform 2002 statt. Der § 11 Nr. 2a AGB-Gesetz ist aber inhaltsgleich in § 309 BGB eingeflossen, weshalb die Entscheidung auch für die aktuelle Rechtslage gilt.


 


Hier ist die Entscheidung in vollem Wortlaut:


 


 


 


 



Tenor


 


Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 9. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Naumburg vom 9. November 2007 aufgehoben.


Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.


Von Rechts wegen.


Tatbestand


Der Kläger nimmt die Beklagten auf Zahlung restlichen Architektenhonorars aus eigenem und abgetretenem Recht seines Vaters in Anspruch. Im April 1996 schlossen er und sein Vater einerseits und die Beklagten andererseits einen "Einheits-Architektenvertrag für Gebäude" betreffend den Neubau eines Einfamilienhauses. Gegenstand des Vertrages sind die Leistungsphasen 2 bis 9 gemäß § 15 Abs. 2 HOAI a.F. Die dem Architektenvertrag beigefügten "Allgemeine(n) Vertragsbestimmungen zum Einheits-Architektenvertrag (AVA)" lauten in § 4 Nr. 4.5:


"Eine Aufrechnung gegen den Honoraranspruch ist nur mit einer unbestrittenen oder rechtskräftig festgestellten Forderung zulässig."


Nachdem die Beklagten auf die dritte Abschlagsrechnung keine Zahlungen erbracht hatten, kündigten der Kläger und sein Vater mit Schreiben vom 23. Dezember 1998 den Architektenvertrag.


Die Beklagten rechnen gegenüber der Honorarforderung mit Schadensersatzansprüchen wegen mangelhafter Planung und Bauüberwachung auf. Diese Mängel der Architektenleistung hätten zu Schallschutzmängeln, Rissbildungen und Feuchtigkeit im Kellerbereich geführt.


Der Kläger hat erstinstanzlich zuletzt beantragt, die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 65.824,33 € nebst Zinsen zu zahlen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Es hat einen Honoraranspruch in Höhe von 59.286,85 € für begründet erachtet, gegen den die Beklagten allerdings mit diesen Betrag übersteigenden Schadenersatzansprüchen wirksam aufgerechnet hätten. Auf die Berufung des Klägers hat das Berufungsgericht die Beklagten verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger 59.286,85 € nebst Zinsen zu zahlen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision möchten die Beklagten die Zurückweisung der Berufung erreichen.


Gründe


Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.


Auf das Rechtsverhältnis der Parteien sind die bis 31. Dezember 2001 geltenden Rechtsvorschriften anwendbar (Art. 229 § 5 Satz 1 EGBGB).


I.


Das Berufungsgericht hat die Aufrechnung der Beklagten mit Schadensersatzansprüchen gegen die rechnerisch unstreitige Resthonorarforderung des Klägers in Höhe von 59.286,85 € für unzulässig erachtet. Ihr stehe das Aufrechnungsverbot in § 4 Nr. 4.5 der Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu dem vorgenannten Architektenvertrag entgegen. Diese Klausel sei wirksam. Sie sei weder intransparent noch benachteilige sie die Beklagten entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen. Sie verstoße auch nicht gegen § 11 Nr. 3 AGBG oder § 11 Nr. 2b AGBG. Soweit nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 23. Juni 2005 (VII ZR 197/03, BGHZ 163, 274) Aufrechnungsverbote dann nicht zur Geltung kommen könnten, wenn sie den Auftraggeber zwängen, eine mangelhafte oder unfertige Leistung in vollem Umfang zu vergüten, obwohl ihm Gegenansprüche in Höhe der Mängelbeseitigungs- oder Fertigstellungskosten zustünden, läge diese Situation nicht vor. Es stehe gerade nicht fest, dass den Beklagten die zur Aufrechnung gestellten Schadensersatzansprüche zustünden, weil diese Ansprüche weder unstreitig seien noch Entscheidungsreife bestehe.


Der Rechtsstreit sei im Übrigen, was die Honorarforderung des Klägers angehe, entscheidungsreif. Frühere Einwendungen hätten die Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht am 5. Februar 2004 fallengelassen und damit, wie das Landgericht zutreffend ausgeführt habe, den geltend gemachten Honoraranspruch unstreitig gestellt.


II.


Das hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.


1. Ohne Erfolg rügt die Revision allerdings, dass das Berufungsgericht den Rechtsstreit für entscheidungsreif gehalten hat, soweit es um die Honorarforderung des Klägers ging. Denn die Begründetheit der Klageforderung (vorbehaltlich der Frage ihres Erlöschens durch Aufrechnung) stand durch die Entscheidung des Landgerichts bereits rechtskräftig fest.


Ein Urteil, das das ursprüngliche Bestehen der Klageforderung und der zur Aufrechnung gestellten Gegenforderung bejaht, enthält insoweit zwei prozessual selbständige Elemente des Streitstoffs. Dementsprechend kann die Überwälzung des Streitstoffs in die Rechtsmittelinstanz (Devolution) auf jedes der beiden Elemente beschränkt werden. Die Devolution eines solchen abtrennbaren Teils des Streitstoffs setzt die Einlegung eines Rechtsmittels (oder eines Anschlussrechtsmittels) durch die beschwerte Partei voraus. Anderenfalls verbleibt dieser Teil des Streitstoffs in der Vorinstanz, wird rechtskräftig und gelangt nicht in die nächste Instanz (BGH, Urteil vom 3. November 1989 - V ZR 143/87, BGHZ 109, 179, 189).


Die Beklagten haben ausweislich des Berufungsurteils gegen die landgerichtliche Entscheidung keine Anschlussberufung eingelegt; dies wird auch von der Revision nicht geltend gemacht. Eine Aberkennung der Klageforderung unabhängig von den zur Aufrechnung gestellten Forderungen kommt daher nicht in Betracht.


2. Rechtsfehlerhaft hat das Berufungsgericht jedoch angenommen, eine Aufrechnung gegen den Honoraranspruch des Klägers sei durch § 4 Nr. 4.5 der Allgemeinen Vertragsbestimmungen zum Einheits-Architektenvertrag ausgeschlossen.


a) Zu Recht ist das Berufungsgericht noch davon ausgegangen, dass etwaige Schadensersatzansprüche der Beklagten nur im Wege der Aufrechnung geltend gemacht werden können; eine Verrechnung mit der Werklohnforderung des Klägers findet nicht statt. Die Verrechnung ist kein gesetzlich vorgesehenes Rechtsinstitut in den Fällen, in denen sich nach der Gesetzeslage Werklohn und Anspruch wegen Nichterfüllung oder andere Ansprüche wegen Schlechterfüllung des Vertrages aufrechenbar gegenüber stehen. In diesen Fällen sind die vertraglichen oder gesetzlichen Regelungen zur Aufrechnung anwendbar (BGH, Urteil vom 23. Juni 2005 - VII ZR 197/03, BGHZ 163, 274, 278). Diese vom Bundesgerichtshof bereits für einen Werkvertrag unter Vereinbarung der VOB/B entschiedenen Grundsätze finden ebenso auf einen Architektenvertrag Anwendung, der als Werkvertrag zu qualifizieren ist.


b) Rechtsfehlerhaft bejaht das Berufungsgericht dagegen die Wirksamkeit von § 4 Nr. 4.5 der Allgemeinen Vertragsbestimmungen. Diese Bestimmung ist entgegen einer vielfach in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte vertretenen Auffassung (OLG Hamm, BauR 2004, 1643, 1645 m.w.N.) gemäß § 9 Abs. 1 AGBG unwirksam. Denn sie benachteiligt den Vertragspartner des verwendenden Architekten entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen.


aa) Eine solche Benachteiligung liegt vor, wenn der Besteller durch das Verbot der Aufrechnung in einem Abrechnungsverhältnis eines Werkvertrages gezwungen würde, eine mangelhafte oder unfertige Leistung in vollem Umfang zu vergüten, obwohl ihm Gegenansprüche in Höhe der Mängelbeseitigungs- oder Fertigstellungskosten zustehen (vgl. BGH, Urteil vom 23. Juni 2005 - VII ZR 197/03, BGHZ 163, 274, 279; OLG Frankfurt, OLGR Frankfurt 2008, 665; H.-D. Hensen in Ulmer/Brander/Hensen, AGB-Recht, 10. Aufl., § 309 Nr. 3 BGB Rn. 7 m.w.N.; Kessen, BauR 2005, 1691, 1693 ff.). Denn hierdurch würde in das durch den Vertrag geschaffene Äquivalenzverhältnis von Leistung und Gegenleistung in für den Besteller unzumutbarer Weise eingegriffen.


Die synallagmatische Verknüpfung der Werklohnforderung mit der Forderung auf mangelfreie Erfüllung des Vertrages findet zunächst ihren Ausdruck in einem Leistungsverweigerungsrecht des Bestellers im Falle einer mangelhaften oder nicht fertig gestellten Leistung, § 320 Abs. 1 BGB. Der Besteller kann sich im Prozess mit dem Leistungsverweigerungsrecht verteidigen mit der Folge, dass die Werklohnforderung ganz oder teilweise nicht durchsetzbar ist. Dies kann in Allgemeinen Geschäftsbedingungen nicht ausgeschlossen werden (§ 11 Nr. 2a AGBG, § 309 Nr. 2a BGB). Es wäre ein nicht hinnehmbares Ergebnis, wenn eine aus dem Leistungsverweigerungsrecht erwachsene auf Zahlung gerichtete Gegenforderung dazu führen würde, dass der Werklohn nunmehr durchsetzbar ist (vgl. BGH, Urteil vom 24. November 2005 - VII ZR 304/04, BGHZ 165, 134, 137).


Aus diesen Gründen hat der Bundesgerichtshof bereits entschieden, dass ein Vorbehaltsurteil grundsätzlich nicht erlassen werden darf, wenn damit eine Werklohnforderung zugesprochen wird und zur Aufrechnung gestellte Ansprüche auf Zahlung der Mängelbeseitigungskosten oder der Fertigstellungsmehrkosten dem Nachverfahren vorbehalten werden. Dies würde nämlich zu einer vorübergehenden Aussetzung der Wirkung einer materiellrechtlich begründeten Aufrechnung führen und hätte zur Folge, dass der Kläger einen Titel über eine Forderung erhält, die tatsächlich infolge der Aufrechnung nicht besteht. Diese Wirkung ist grundsätzlich nicht gerechtfertigt, wenn der Besteller gegenüber einer Werklohnforderung mit Ansprüchen aufrechnet, die dazu dienen, das durch den Vertrag geschaffene Äquivalenzverhältnis von Leistung und Gegenleistung herzustellen (BGH, Urteil vom 24. November 2005 - VII ZR 304/04, BGHZ 165, 134; BGH, Urteil vom 27. September 2007 - VII ZR 80/05, BauR 2007, 2052 = NZBau 2008, 55 = ZfBR 2008, 39).


Ein Aufrechnungsverbot führt in noch stärkerer Weise als ein Vorbehaltsurteil zu einer Auflösung der synallagmatischen Verbundenheit der genannten gegenseitigen Forderungen. Diese Wirkung wäre anders als bei einem Vorbehaltsurteil nicht nur vorübergehend, sondern sogar endgültig. Deshalb gilt hier erst recht, dass dies in den genannten Fällen nicht gerechtfertigt ist und den Besteller deshalb unangemessen benachteiligt.


bb) Auch in einem Architektenvertrag können dem Besteller wegen Mängeln der Leistung des Architekten Ansprüche auf Schadensersatz zustehen, die darin bestehen, die Kosten zur Beseitigung der Mängel des Architektenwerkes (etwa die Überarbeitung einer fehlerhaften Planung) oder die Fertigstellungsmehrkosten (etwa die notwendige Beauftragung eines weiteren Architekten mit denselben Leistungen) erstattet zu bekommen. Durch § 4 Nr. 4.5 der Allgemeinen Vertragsbestimmungen wird die Aufrechnung mit jeder Forderung für unzulässig erklärt, es sei denn, sie ist unbestritten oder rechtskräftig festgestellt. Damit umfasst das Aufrechnungsverbot auch derartige in einem engen synallagmatischen Verhältnis zur Werklohnforderung stehende Ersatzansprüche wegen Mängelbeseitigungskosten und Fertigstellungsmehrkosten. Die Klausel führt daher aus den dargelegten Gründen zu einer unangemessenen Benachteiligung des Bestellers.


Es kann dahinstehen, ob der Ausschluss der Möglichkeit der Aufrechnung mit Ansprüchen, die nicht auf die Fertigstellungsmehrkosten oder die Mängelbeseitigungskosten des Architektenwerkes gerichtet sind, zulässig wäre. Denn jedenfalls umfasst die Klausel alle Gegenansprüche unterschiedslos. Sie kann nicht hinsichtlich des Ausschlusses der Aufrechnung von unbedenklichen Gegenforderungen aufrechterhalten werden (vgl. Kessen, BauR 2005, 1691, 1695 f.). Dies ist wegen des für Allgemeine Geschäftsbedingungen allgemein zu beachtenden Verbots einer geltungserhaltenden Reduktion (st. Rspr., vgl. zuletzt BGH, Urteil vom 8. Dezember 2010 - VIII ZR 86/10, NJW 2011, 597 Rn. 16) unmöglich. Somit fehlt es in jedem Fall an einem wirksam vereinbarten Ausschluss der Aufrechnung auch insoweit, als es um solche Schadensersatzansprüche geht, wie sie hier von den Beklagten geltend gemacht werden.


cc) Zu Unrecht meint das Berufungsgericht, eine unangemessene Benachteiligung könne allenfalls angenommen werden, wenn die Gegenansprüche entscheidungsreif feststünden. Das trifft nicht zu. Vielmehr ist es dem Besteller in jedem Fall, in dem ihm die Gegenansprüche tatsächlich zustehen, unzumutbar, zunächst die volle Werklohnforderung zahlen zu müssen und auf die gesonderte Geltendmachung seiner Ansprüche verwiesen zu werden.


III.


Der Senat kann nicht selbst in der Sache entscheiden. Das Berufungsgericht hat die zur Aufrechnung gestellten Gegenansprüche nicht abschließend geprüft. Das Berufungsurteil war daher aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.


Kniffka Kuffer Safari Chabestari Halfmeier Leupertz Vorinstanzen:


LG Magdeburg, Entscheidung vom 28.06.2006 - 4 O 3223/98 -


OLG Naumburg, Entscheidung vom 09.11.2007 - 9 U 102/06 -



 


 

Freitag, 12. August 2011

EuGH-Vorlage zum Reverse Charge Verfahren bei Bauleistungen

Folgender Beitrag betrifft eine Frage das USt-Rechts und richtet sich an Steuerfachleute, Auszubildende und BWL-Studenten.

Mit Beschluss vom 30. Juni 2011 V R 37/10 hat der Bundesfinanzhof dem Gerichtshof der Europäischen Union Zweifelsfragen zur Vereinbarkeit der Regelung zum sog. Reverse-Charge-Verfahren vorgelegt.


Während im Regelfall der leistende Unternehmer die Umsatzsteuer abzuführen hat, schuldet für Leistungen, die der Herstellung, Instandsetzung, Instandhaltung, Änderung oder Beseitigung von Bauwerken dienen, mit Ausnahme von Planungs- und Überwachungsleistungen, der Leistungsempfänger die Umsatzsteuer, wenn er selbst ebenfalls solche Leistungen erbringt. Diese Regelung wurde für hauptsächlich für Subunternehmer im Baubereich eingeführt. Der Subunternehmer müsste normalerweise eigentlich USt ausweisen und abführen, wenn er seine Rechnung an den Hauptunternehmer stellt. Der Hauptunternehmer (dies kann auch eine immobilienfirma sein) könnte sich die USt in der Regel wieder als Vorsteuer zurückholen, sofern die Voraussetzungen des § 15 UStG erfüllt sind.

Die Reverse-Charge-Regelung verschiebt die Besteuerung auf den Leistungsempfänger. Obwohl er Kunde ist, muss er die USt abführen. Damit wird ein ähnliches Prinzip wie bei der EUSt oder bei der so genannten Erwerbssteuer beim innergemeinschaftlichen angewandt. Während das alles beim igE noch halbwegs sinnvoll ist, erscheint mir persönlich die Ausweitung des Prinzips auch für Vorgänge innerhalb von Deutschland übertrieben - unnötig kompliziert, die Branche inklusive deren Steuerberater leicht überfordernd und jede Menge Einzelfragen aufwerfend.

Eine dieser Einzelfragen bzw. Abgrenzungsfragen steht hier im Zentrum. Der Beschluss ist ein Vorlage-Beschluss. Er selbst regelt keine Rechtsansicht, sondern drückt die Zweifel des Bundesfinanzhofs über die Rechtslage aus, weshalb er ein laufendes Verfahren aussetzt und den EuGH anruft.

Eigentlich mag ich solche "Vorboten" von Rechtsänderungen nicht publizieren, denn solange die Rechtslage sich nicht wirklich ändert, sollte man das Gedächtnis der Steuerfachleute nicht mit Nachrichten über hypothetische oder künftige Rechtsansichten belasten. Andererseits ist es eine Gelegenheit für den Lernenden, sich nochmals mit dieser seltsamen Reverse-Charge-Methode und seinen Anwendungsbereichen auseinandersetzen. außerdem kann es fbei laufenden USt-Veranlagungen eine Rolle spielen.

Die streitgegenständliche Regelung beruht auf der Ermächtigung des Rates vom 30. März 2004 (2004/290/EG) zum Reverse-Charge-Verfahren "bei der Erbringung von Bauleistungen an einen Steuerpflichtigen". Unionsrechtliche Zweifel bestehen, ob diese Ermächtigung nur Baudienstleistungen (sonstige Leistungen), nicht dagegen (Werk-)Lieferungen betrifft. Denn nach der maßgeblichen Richtlinie (77/388/EWG) können die Mitgliedstaaten "als Lieferungen ...die Erbringung bestimmter Bauleistungen betrachten." Dies könnte darauf hindeuten, dass unter Bauleistungen nur (Bau-)Dienstleistungen zu verstehen sind. Falls die Ermächtigung sich auch auf Lieferungen erstreckt, ist weiter zu klären, ob der Mitgliedstaat von der Ermächtigung abweichen und Untergruppen bilden kann. Denn während der Rat die Einführung des Reverse-Charge-Verfahrens erlaubt, wenn der Leistungsempfänger "Steuerpflichtiger" (d.h. Unternehmer) ist, tritt nach dem deutschen Umsatzsteuergesetz die Umkehr der Steuerschuld nur ein, wenn der Leistungsempfänger ein Unternehmer ist, der selbst Bauleistungen erbringt. Dies war Anlass für das vorliegende Verfahren; denn die Finanzverwaltung geht insoweit davon aus, dass der Leistungsempfänger beim Bezug einer Bauleistung nur dann Steuerschuldner ist, wenn zumindest 10 % seines "Weltumsatzes" im Vorjahr aus derartigen Bauleistungen besteht. Ob die Klägerin die "10% Grenze" überschritten hat, war Ausgangspunkt des Rechtsstreits.

Die Entscheidung hat nicht nur für die Vergangenheit Bedeutung. Die Ermächtigung wurde zwar mit Wirkung zum 1. Januar 2008 durch eine Regelung zur Umkehr der Steuerschuldnerschaft in der Richtlinie selbst ersetzt (inzwischen Art. 199 der Richtlinie 2006/112/EG). Aber auch diese Regelung verwendet den Begriff "Bauleistungen" und nimmt ausdrücklich auf Art. 5 Satz 5 der Richtlinie 77/388/EWG (jetzt Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2006/112/EG) Bezug, wonach die Mitgliedstaaten "die Erbringung bestimmter Bauleistungen" als Lieferungen betrachten können.

Der Einfachheit halber habe ich den vollen Wortlaut abgedruckt:

Entscheidung des V.  Senats vom 30.6.2011 - V R 37/10 -

http://juris.bundesfinanzhof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bfh&Art=pm&Datum=2011&nr=24200&linked=entsch

BUNDESFINANZHOF Entscheidung vom 30.6.2011, V R 37/10

EuGH-Vorlage zu den Voraussetzungen des Übergangs der Steuerschuld nach § 13b UStG - Vereinbarkeit mit der Ermächtigung des Rates vom 30. März 2004 2004/290/EG - Begriff der Bauleistungen - Rechtsfolgen einer unzulässigen Untergruppenbildung - Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts - Nichtanwendung einer unionsrechtswidrigen nationalen Regelung bei Betroffenheit mehrerer Steuerpflichtiger

Leitsätze

Dem EuGH werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Umfasst der Begriff der Bauleistungen i.S. von Art. 2 Nr. 1 der Ermächtigung 2004/290/EG neben Dienstleistungen auch Lieferungen?

2. Falls sich die Ermächtigung zur Bestimmung des Leistungsempfängers als Steuerschuldner auch auf Lieferungen erstreckt:

Ist der ermächtigte Mitgliedstaat berechtigt, die Ermächtigung nur teilweise für bestimmte Untergruppen wie einzelne Arten von Bauleistungen und für Leistungen an bestimmte Leistungsempfänger auszuüben?

3. Falls der Mitgliedstaat zu einer Untergruppenbildung berechtigt ist: Bestehen für den Mitgliedstaat Beschränkungen bei der Untergruppenbildung?

4. Falls der Mitgliedstaat zu einer Untergruppenbildung allgemein (s. oben Frage 2) oder aufgrund nicht beachteter Beschränkungen (s. oben Frage 3) nicht berechtigt ist:

a) Welche Rechtsfolgen ergeben sich aus einer unzulässigen Untergruppenbildung?

b) Führt eine unzulässige Untergruppenbildung dazu, dass die Vorschrift des nationalen Rechts nur zugunsten einzelner Steuerpflichtiger oder allgemein nicht anzuwenden ist?

Tatbestand
1
   
I. Sachverhalt
2
   
Gegenstand des Unternehmens der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist der Erwerb, die Erschließung und die Bebauung von Grundstücken. Die Klägerin ist Unternehmerin i.S. von § 2 des Umsatzsteuergesetzes 2005 (UStG) und Steuerpflichtige i.S. von Art. 4 der im Streitjahr geltenden Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerliche Bemessungsgrundlage 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG).
3
   
Im September 2004 beauftragte die Klägerin die Beigeladene als Generalunternehmerin mit der Erstellung eines Wohnhauses mit sechs Wohnungen zu einem Pauschalpreis. Für ihre Leistung erteilte die Beigeladene am 17. November 2005 eine Schlussrechnung ohne Umsatzsteuerausweis, in der sie auf die Steuerschuldnerschaft der Klägerin als Leistungsempfängerin hinwies.
4
   
Die Klägerin versteuerte zunächst die von ihr im Streitjahr 2005 bezogene Leistung als Steuerschuldnerin, machte später aber geltend, dass die Voraussetzungen für eine in ihrer Person entstandene Steuerschuld nicht vorlägen. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt) folgte dem nicht, sondern ging davon aus, dass die Klägerin nach § 13b Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 UStG Steuerschuldnerin sei.

Entscheidungsgründe
   
5
   
II. Entscheidungsgründe
6
   
Der Senat setzt das Revisionsverfahren gemäß § 121 Satz 1, § 74 der Finanzgerichtsordnung aus und legt dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gemäß Art. 267 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union die im Leitsatz bezeichneten Fragen zur Auslegung der Ermächtigung 2004/290/EG des Rates vom 30. März 2004 (Amtsblatt der Europäischen Union 2004, Nr. L 94, 59 --Ermächtigung 2004/290/EG--) zur Vorabentscheidung vor.
7
   
1. Rechtlicher Rahmen
8
   
a) Unionsrecht
9
   
Nach Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 77/388/EWG unterlagen der Mehrwertsteuer
10
   
"Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt".
11
   
Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 77/388/EWG hatte folgenden Wortlaut:
12
   
"(3) Die Mitgliedstaaten können auch solche Personen als Steuerpflichtige betrachten, die gelegentlich eine der in Absatz 2 genannten Tätigkeiten ausüben und insbesondere eine der folgenden Leistungen erbringen:
13
   
a) die Lieferung von Gebäuden oder Gebäudeteilen und dem dazugehörigen Grund und Boden, wenn sie vor dem Erstbezug erfolgt. Die Mitgliedstaaten können die Einzelheiten der Anwendung dieses Kriteriums auf Umbauten von Gebäuden und den Begriff 'dazugehöriger Grund und Boden' festlegen. ... Als Gebäude gilt jedes mit dem Boden fest verbundene Bauwerk."
14
   
Art. 5 Abs. 1 und Abs. 5 der Richtlinie 77/388/EWG bestimmten:
15
   
"(1) Als Lieferung eines Gegenstands gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.
16
   
(5) Als Lieferungen im Sinne des Absatzes 1 können die Mitgliedstaaten die Erbringung bestimmter Bauleistungen betrachten."
17
   
Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG regelte:
18
   
"(1) Als Dienstleistung gilt jede Leistung, die keine Lieferung eines Gegenstands im Sinne des Artikels 5 ist."
19
   
Nach Art. 21 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 der Richtlinie 77/388/EWG schuldet die Mehrwertsteuer im inneren Anwendungsbereich
20
   
"der Steuerpflichtige, der einen steuerpflichtigen Umsatz bewirkt, mit Ausnahme der in Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe e) genannten Umsätze, die von einem im Ausland ansässigen Steuerpflichtigen erbracht werden. ..."
21
   
Art. 1 und 2 der auf Art. 27 der Richtlinie 77/388/EWG gestützten Ermächtigung 2004/290/EG hat folgenden Wortlaut:
22
   
"Artikel 1
23
   
Abweichend von Artikel 21 Absatz 1 Buchstabe a) der Richtlinie 77/388/EWG in der Fassung des Artikels 28 Buchstabe g) jener Richtlinie wird die Bundesrepublik Deutschland mit Wirkung vom 1. April 2004 ermächtigt, bei den in Artikel 2 dieser Entscheidung bezeichneten Lieferungen von Gegenständen und Erbringungen von Dienstleistungen den Empfänger als Mehrwertsteuerschuldner zu bestimmen.
24
   
Artikel 2
25
   
In folgenden Fällen kann der Empfänger der Gegenstände oder Dienstleistungen als Mehrwertsteuerschuldner bestimmt werden:
1. bei der Erbringung von Gebäudereinigungsleistungen an einen Steuerpflichtigen, es sei denn, der Leistungsempfänger vermietet ausschließlich nicht mehr als zwei Wohnungen, oder bei der Erbringung von Bauleistungen an einen Steuerpflichtigen;
2. bei der Lieferung von Grundstücken an einen Steuerpflichtigen gemäß Artikel 13 Teil B Buchstaben g) und h), sofern der Lieferer für die Besteuerung des Umsatzes optiert hat."
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Der zweite und dritte Erwägungsgrund dieser Ermächtigung lauten:
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"(2) Im Baugewerbe und im Gewerbe der Gebäudereinigung wurden beträchtliche MwSt.-Ausfälle festgestellt, die dadurch entstanden sind, dass die MwSt. in der Rechnung offen ausgewiesen, jedoch nicht an den Fiskus abgeführt wurde, während der Leistungsempfänger sein Vorsteuerabzugsrecht ausübte. Die steuerunehrlichen Wirtschaftsbeteiligten konnten nicht festgestellt werden, oder es war bei ihrer Feststellung zur Rückforderung der MwSt. bereits zu spät. Derartige Fälle treten inzwischen so häufig auf, dass rechtliche Maßnahmen ergriffen werden müssen. Die angestrebte Steuerschuldnerschaft des Empfängers betrifft nur Steuerpflichtige mit Vorsteuerabzugsrecht, nicht Privatpersonen. Sie ist auf zwei bestimmte Gewerbe beschränkt, in denen die MwSt.-Ausfälle unhaltbare Ausmaße angenommen haben. Österreich wurde mit der Entscheidung 2002/880/EG bereits zur Anwendung einer ähnlichen Ausnahmeregelung ermächtigt.
28
   
(3) Auch bei Lieferungen von Grundstücken gemäß Artikel 13 Teil B Buchstaben g) und h), die mit einem besonders großen MwSt.-Betrugs- und -umgehungsrisiko verbunden sind, wurden MwSt.-Ausfälle festgestellt, wenn der Lieferer für die Besteuerung des Umsatzes optierte. Grundstücke haben in der Regel einen so hohen Wert, dass die Bemessungsgrundlage und die MwSt.-Ausfälle schon bei einem einzigen Umsatz besonders hoch sind. Die Möglichkeit, für die Besteuerung von Grundstückslieferungen zu optieren, muss beibehalten werden, um das MwSt.-System neutral zu halten. Angesichts der besonderen Umstände bei Lieferungen von Grundstücken scheint die angestrebte MwSt.-Schuldnerschaft des Leistungsempfängers die beste Lösung zu sein, um dem damit verbundenen besonders hohen Risiko zu begegnen. Vermieden werden dadurch außerdem eine doppelte steuerliche Haftung von Lieferer und Leistungsempfänger, die für den Empfänger mit einem höheren wirtschaftlichen Risiko und für den Fiskus mit aufwändigen Rückforderungsverfahren verbunden wäre, sowie die steuerliche Haftung eines Dritten wie z.B. eines Notars, die zu höheren Kosten für Lieferer und Leistungsempfänger führen würde. Die Ausnahmeregelung betrifft in der Praxis lediglich Umsätze zwischen Steuerpflichtigen und ist somit auf bestimmte Fälle begrenzt."
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b) Nationales Recht
30
   
§ 3 Abs. 1, 4 und 9 UStG lauten:
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"(1) Lieferungen eines Unternehmers sind Leistungen, durch die er oder in seinem Auftrag ein Dritter den Abnehmer oder in dessen Auftrag einen Dritten befähigt, im eigenen Namen über einen Gegenstand zu verfügen (Verschaffung der Verfügungsmacht). ...
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(4) Hat der Unternehmer die Bearbeitung oder Verarbeitung eines Gegenstands übernommen und verwendet er hierbei Stoffe, die er selbst beschafft, so ist die Leistung als Lieferung anzusehen (Werklieferung), wenn es sich bei den Stoffen nicht nur um Zutaten oder sonstige Nebensachen handelt. Das gilt auch dann, wenn die Gegenstände mit dem Grund und Boden fest verbunden werden. ...
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(9) Sonstige Leistungen sind Leistungen, die keine Lieferungen sind. ..."
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§ 13b Abs. 1 Nr. 4 und Abs. 2 Satz 2 UStG stützt sich in der ab dem 1. April 2004 geltenden Fassung auf die Ermächtigung 2004/290/EG und bestimmt:
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"(1) Für folgende steuerpflichtige Umsätze entsteht die Steuer mit Ausstellung der Rechnung, spätestens jedoch mit Ablauf des der Ausführung der Leistung folgenden Kalendermonats: ...
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4. Werklieferungen und sonstige Leistungen, die der Herstellung, Instandsetzung, Instandhaltung, Änderung oder Beseitigung von Bauwerken dienen, mit Ausnahme von Planungs- und Überwachungsleistungen. ...
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(2) ... In den in Absatz 1 Satz 1 Nr. 4 Satz 1 genannten Fällen schuldet der Leistungsempfänger die Steuer, wenn er ein Unternehmer ist, der Leistungen im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 4 Satz 1 UStG erbringt. ..."
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Nach § 48 des Einkommensteuergesetzes (EStG), einer Regelung zur Sicherstellung der Einkommensbesteuerung des Leistenden, ist bei sog. Bauleistungen vom Leistungsempfänger ein Steuerabzug vorzunehmen, dem nicht der Charakter einer Umsatzsteuer zukommt. § 48 Abs. 1 Satz 3 EStG definiert Bauleistungen für Zwecke dieses Steuerabzugs als
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"... alle Leistungen, die der Herstellung, Instandsetzung, Instandhaltung, Änderung oder Beseitigung von Bauwerken dienen".
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2. Zur ersten Vorlagefrage
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Im Streitfall ist entscheidungserheblich, ob sich der Begriff der Bauleistung im Sinne der Ermächtigung 2004/290/EG nur auf Dienstleistungen bezieht oder auch Lieferungen umfasst.
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a) Die Ermächtigung 2004/290/EG definiert den Begriff der Bauleistungen nicht. Bauleistungen können sowohl Lieferungen als auch Dienstleistungen sein.
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aa) Für die Annahme, dass Bauleistungen in Lieferungen und Dienstleistungen bestehen können, spricht, dass der Begriff der Leistung als Oberbegriff für Lieferungen und Dienstleistungen verstanden werden kann.
44
   
bb) Der zweite Absatz der Erwägungsgründe der Ermächtigung 2004/290/EG, der sich neben dem "Gewerbe der Gebäudereinigung" auch auf das "Baugewerbe" bezieht, lässt eine Auslegung zu, nach der der Begriff "Bauleistungen" alle Leistungen und damit Lieferungen und Dienstleistungen umfasst, die der Herstellung, Instandsetzung, Instandhaltung, der Änderung oder Beseitigung von Gebäuden dienen. Hierfür könnte der Zweck der Ermächtigung sprechen, die Bekämpfung der von steuerunehrlichen Wirtschaftsbeteiligten verursachten Steuerausfälle. Eine derartige Auslegung könnte sich auch ergeben aus der Erwähnung des "Baugewerbes" in den Begründungserwägungen sowie aus dem Hinweis auf die Österreich erteilte, "ähnliche" Ermächtigung, die den Übergang der Steuerschuld gestattet bei "Bauleistungen ... durch ein Subunternehmen an ein von einem Bauherrn beauftragtes Generalunternehmen ..., an ein Unternehmen, das selbst Bauleistungen erbringt" ... sowie von "Bauleistungen ... durch ein Subunternehmen an ein anderes Subunternehmen".
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cc) Möglicherweise ist bei der Auslegung der Ermächtigung 2004/290/EG auch die einkommensteuerrechtliche Definition der Bauleistung in § 48 Abs. 1 Satz 3 EStG als Vorschrift des nationalen Rechts zu berücksichtigen. Für eine Berücksichtigung einer Definition des nationalen Rechts könnte sprechen, dass --obwohl der Begriff der Bauleistung im Sinne der Ermächtigung 2004/290/EG ein unionsrechtlicher Begriff ist-- im Hinblick auf das Vorliegen einer nur an die Bundesrepublik Deutschland gerichteten Ermächtigung eine autonom unionsrechtliche Begriffsdefinition nicht zwingend ist.
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b) Gleichwohl ist zweifelhaft, ob sich der in der Ermächtigung 2004/290/EG verwendete Begriff der Bauleistung nicht auf Baudienstleistungen beschränkt.
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aa) Die englische und französische Sprachfassung der Ermächtigung 2004/290/EG beschreiben den Begriff der Bauleistungen als "supply of construction work" und "travaux de construction". Die Verwendung der Begriffe "work" und "travaux" deuten dabei auf eine Dienstleistung hin, wie sich aus Art. 9 Abs. 2 Buchst. c vierter Gedankenstrich der Richtlinie 77/388/EWG ergibt. Diese Bestimmung verwendet die Begriffe "work" und "travaux" zur Festlegung des Orts von Dienstleistungen und sieht die mit diesen Begriffen beschriebene Leistung ("Arbeiten") als Dienstleistung an.
48
   
bb) Die Richtlinie 77/388/EWG verwendet den Begriff der Bauleistungen in Art. 5 Abs. 5. Danach können die Mitgliedstaaten die Erbringung bestimmter Bauleistungen als Lieferungen betrachten. Diese zugunsten der Mitgliedstaaten bestehende Ermächtigung geht somit davon aus, dass Bauleistungen im Grundsatz, d.h. ohne Ausübung der nach dieser Bestimmung bestehenden Ermächtigung, als Dienstleistungen anzusehen sind. In ihrer englischen und französischen Sprachfassung verwendet Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 77/388/EWG die Begriffe "handing over of certain works of construction" sowie "delivrance de certains travaux immobiliers".
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cc) Die Ermächtigung 2004/290/EG wurde mit Wirkung zum 1. Januar 2008 durch die Richtlinie 2006/69/EG ersetzt. Nach Art. 21 Abs. 2 Buchst. c und Buchst. i der Richtlinie 77/388/EWG in der Fassung der Änderungsrichtlinie 2006/69/EG (ebenso Art. 199 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG) kann die Steuerschuld des Leistungsempfängers angeordnet werden für "Bauleistungen, einschließlich Reparatur-, Reinigungs-, Wartungs-, Umbau- und Abbruchleistungen im Zusammenhang mit Grundstücken sowie die aufgrund von Artikel 5 Absatz 5 als Lieferung von Gegenständen betrachtete Erbringung bestimmter Bauleistungen". Auch dies deutet darauf hin, dass es sich bei den Bauleistungen nur um Baudienstleistungen handelt. Hierfür spricht insbesondere die ausdrückliche Bezugnahme auf Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 77/388/EWG (Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2006/112/EG).
50
   
dd) Schließlich kann zu berücksichtigen sein, dass die Ermächtigung 2004/290/EG als von der Richtlinie 77/388/EWG abweichende Sonderregelung dem Grundsatz enger Auslegung unterliegt (vgl. zur engen Auslegung derartiger Ermächtigungen z.B. EuGH-Urteil vom 29. Mai 1997 C-63/96, Skripalle, Slg. 1997, I-2847, Leitsatz 1), was eine einschränkende Auslegung des Begriffs der Bauleistungen auf Baudienstleistungen rechtfertigen könnte.
51
   
c) Die Entscheidungserheblichkeit der ersten Vorlagefrage beruht darauf, dass es sich bei der von der Klägerin bezogenen Leistung, der Errichtung eines Gebäudes, um eine Lieferung handelt, wie sich aus der allgemeinen Definition des Lieferbegriffs in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG ergibt und durch Art. 4 Abs. 3 dieser Richtlinie bestätigt wird. Für diese Leistung besteht keine Steuerbefreiung. Auch Art. 13 Teil B Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG erfasst diese Lieferung nicht.
52
   
Gestattet die Ermächtigung 2004/290/EG die Anordnung einer Steuerschuld des Leistungsempfängers nur für die Bauleistungen, bei denen es sich um Dienstleistungen handelt, nicht aber auch für Lieferungen, ist die Klägerin zwar nach § 13b UStG, nicht aber auch nach der Ermächtigung 2004/290/EG Steuerschuldnerin, so dass das für sie günstigere Unionsrecht zu berücksichtigen wäre.
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3. Zur zweiten Vorlagefrage
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a) Sollte die Ermächtigung 2004/290/EG die Anordnung einer Steuerschuld des Leistungsempfängers auch für Baulieferungen gestatten, ist weiter entscheidungserheblich, ob die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die Steuerschuld des Leistungsempfängers nach Art. 2 Nr. 1 der Ermächtigung 2004/290/EG für alle Baulieferungen und dabei entsprechend Art. 1 dieser Ermächtigung für Lieferungen an alle Steuerpflichtigen anzuordnen oder ob es ihnen offensteht, insoweit zwischen verschiedenen Arten von Baulieferungen und Leistungsempfängern zu differenzieren. Sollte eine derartige Berechtigung nicht bestehen, stellt sich die Anschlussfrage, welche Rechtsfolgen sich aus einer dann unzulässigen Untergruppenbildung ergeben.
55
   
Dabei kann zu berücksichtigen sein, dass es sich bei der Ermächtigung 2004/290/EG um keine für den Mitgliedstaat zwingende Regelung, sondern um ein ihm eingeräumtes Wahlrecht handelt. Bei anderen Ermächtigungen, wie z.B. der Ermächtigung, einen ermäßigten Steuersatz anzuwenden, ist der EuGH davon ausgegangen, dass "ein Mitgliedstaat, wenn er beschlossen hat, von der ihm in Art. 98 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2006/112/EG eröffneten Möglichkeit, auf eine Kategorie von Dienstleistungen im Sinne von Anhang III dieser Richtlinie einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden, Gebrauch zu machen, unter der Voraussetzung, dass der dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zugrunde liegende Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachtet wird, die Anwendung dieses ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf konkrete und spezifische Aspekte dieser Kategorie von Dienstleistungen beschränken" kann (EuGH-Urteil vom 6. Mai 2010 C-94/09, Kommission/Frankreich, Umsatzsteuer-Rundschau 2010, 454 Rdnr. 28). Diese Überlegung könnte es rechtfertigen, eine Untergruppenbildung auch bei der Ausübung der Ermächtigung 2004/290/EG für zulässig zu halten.
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Weiter kann auch zu berücksichtigen sein, dass Art. 21 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG in der Fassung der Änderungsrichtlinie 2006/69/EG (ebenso Art. 199 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112/EG) die Mitgliedstaaten ausdrücklich ermächtigte, festzulegen, "für welche Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen und für welche Kategorien von Leistungserbringern oder Leistungsempfängern sie von diesen Maßnahmen Gebrauch machen ... [und sie] ... ferner die Anwendung dieser Regelung auf einige der in Anhang M genannten Lieferungen von Gegenständen oder Dienstleistungen beschränken" können. Eine vergleichbare Regelung enthielt die Ermächtigung 2004/290/EG aber nicht.
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b) Die Entscheidungserheblichkeit der zweiten Vorlagefrage ergibt sich daraus, dass § 13b UStG keine Steuerschuld des Leistungsempfängers für alle Baulieferungen, sondern nur für Werklieferungen nach § 3 Abs. 4 UStG anordnet, so dass die Vorschrift nicht z.B. die bloße Lieferung von Baumaterial erfasst. Der Senat ist in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass ein Unternehmer, der auf einem ihm nicht gehörenden Grundstück ein Gebäude errichtet, an den Grundstückseigentümer eine derartige Werklieferung ausführt (vgl. z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs vom 24. Juli 1969 V R 9/66, BFHE 97, 196, BStBl II 1970, 71 zur gleichlautenden Bestimmung in § 3 Abs. 2 UStG 1951). Bedenken gegen eine Untergruppenbildung nach § 3 Abs. 4 UStG ergeben sich auch daraus, dass für diese Vorschrift keine Rechtsgrundlage in der Richtlinie 77/388/EWG besteht und die Vorschrift möglicherweise mit den Grundsätzen der EuGH-Rechtsprechung zur Abgrenzung von Lieferungen und Dienstleistungen (vgl. z.B. EuGH-Urteil vom 29. März 2007 C-111/05, Aktiebolaget NN, Slg. 2007, I-2697 Rdnr. 19 ff.), nicht in Einklang steht.
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Darüber hinaus sind nicht entsprechend Art. 1 der Ermächtigung 2004/290/EG alle Steuerpflichtigen als Leistungsempfänger Steuerschuldner für die von ihnen bezogenen Leistungen, sondern nur die Steuerpflichtigen, die die Leistungen, für die die Steuerschuld des Leistungsempfängers angeordnet ist, auch selbst erbringen. Dies kann für den Leistenden zu Schwierigkeiten hinsichtlich der Feststellung führen, ob er selbst oder der Leistungsempfänger Steuerschuldner ist, wenn er in die Verhältnisse des Leistungsempfängers keinen Einblick hat. Die Finanzverwaltung geht insoweit davon aus, dass der Leistungsempfänger bei Vorliegen einer Bauleistung nur dann Steuerschuldner ist, wenn er nicht nur Steuerpflichtiger ist und selbst Bauleistungen erbringt, sondern zumindest 10 % seines "Weltumsatzes" im Vorjahr aus derartigen Bauleistungen bestehe (Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 31. März 2004 IV D 1 -S 7279- 107/04, BStBl I 2004, 453; vgl. zuletzt Umsatzsteueranwendungserlass vom 4. Februar 2011, BStBl I 2010, 846 Abschn. 13b.1). Diese Auffassung war Ausgangspunkt des vorliegenden Rechtsstreits, da die Klägerin zunächst davon ausging, dass sie diese Grenze überschritten habe, später aber feststellte, dass dies nicht der Fall war.
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4. Zur dritten Vorlagefrage
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Ist der Mitgliedstaat zu einer Untergruppenbildung berechtigt, stellt sich weiter die Frage, ob der Mitgliedstaat dabei Beschränkungen unterliegt oder Untergruppen nach freiem Ermessen bilden kann. Insoweit ist im Streitfall entscheidungserheblich, ob bei einer Regelung, die einen Übergang der Steuerschuld nicht für Bauleistungen an alle Steuerpflichtigen anordnet, sondern nur für Leistungen an Steuerpflichtige, die selbst Bauleistungen erbringen, der Grundsatz der Rechtssicherheit (vgl. allgemein EuGH-Urteile vom 8. Juni 2000 C-396/98, Schloßstraße, Slg. 2000, I-4279 Rdnr. 44, und vom 26. April 2005 C-376/02, "Goed Wonen", Slg. 2005, I-3445 Rdnr. 32) hinreichend gewahrt ist, wenn der Leistende nicht rechtssicher feststellen kann, ob die Voraussetzungen für die Steuerschuld seines Leistungsempfängers im Hinblick auf die hierfür in der Person des Leistungsempfängers zu erfüllenden Bedingungen vorliegen.
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5. Zur vierten Vorlagefrage
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Schließlich stellt sich die Frage nach den Rechtsfolgen einer unzulässigen Untergruppenbildung.
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a) Kann ein Mitgliedstaat z.B. nur für alle Baulieferungen, nicht aber für die Untergruppe der Bauwerklieferungen die Steuerschuld des Leistungsempfängers anordnen, könnte dies dazu führen, dass die unterbliebene Erstreckung der Steuerschuld des Leistungsempfängers für andere Baulieferungen als Bauwerklieferungen dem Übergang der Steuerschuld bei Bauwerklieferungen nicht entgegensteht. Die nationale Regelung wäre dann zwar unionsrechtswidrig, dies bliebe jedoch ohne Auswirkung auf die Steuerschuld des Empfängers der Bauwerklieferung, da jedenfalls für ihn die Anordnung des Übergangs der Steuerschuld unionsrechtskonform ist und seine Rechte durch das Unterbleiben der unionsrechtlich gebotenen Erstreckung des Übergangs der Steuerschuld auf weitere Umsätze nicht verletzt werden.
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b) Wäre davon auszugehen, dass § 13b UStG, soweit er auch Lieferungen umfasst, nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist, stellt sich auch die Frage, ob die nationale Regelung insgesamt unangewendet bleiben muss oder nur, soweit sie den Steuerpflichtigen im Vergleich zum Unionsrecht benachteiligt.
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aa) Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist das innerstaatliche Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts anzuwenden hat, gehalten, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede --auch spätere-- entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (vgl. z.B. EuGH-Urteil vom 19. November 2009 C-314/08, Filipiak, Slg. 2009, I-11049 Rdnr. 81). Nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts wird der Konflikt zwischen einer Vorschrift des nationalen Gesetzes und einer unmittelbar anwendbaren Regelung des Unionsrechts für ein nationales Gericht dadurch gelöst, dass es das Unionsrecht anwendet und die entgegenstehende nationale Vorschrift erforderlichenfalls unangewandt lässt (EuGH-Urteil Filipiak in Slg. 2009, I-11049 Rdnr. 82).
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bb) Der Verstoß gegen das Unionsrecht betrifft bei einer Regelung zur Umkehr der Steuerschuld gleichzeitig zwei Steuerpflichtige, von denen sich der eine --der Leistungsempfänger-- auf das ihm günstigere Unionsrecht berufen kann, wonach der Leistende die Umsatzsteuer schuldet, während der andere --der Leistende-- auf der Anwendung des nationalen Rechts bestehen kann, das den Leistungsempfänger als Steuerschuldner bestimmt und daher für ihn günstiger ist.
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Dies könnte es rechtfertigen, dass eine unionsrechtswidrige nationale Regelung zum Übergang der Steuerschuld, die zwingend Auswirkungen auf zwei Steuerpflichtige hat, insgesamt --mit Wirkung für beide Steuerpflichtige-- unangewendet bleiben muss. Andernfalls entstünde eine Besteuerungslücke, da sich der Leistungsempfänger auf das ihm günstigere Unionsrecht berufen, der Leistende dagegen zugleich die Geltung des nationalen Rechts beanspruchen könnte.

Ende des Abdrucks

Bitte beachten Sie: es handelt nur um einen Vorlagebeschluss und somit im Grunde einen (von einem Gericht verfassten) wissenschaftlichen Aufsatz.